Wagner ist für ein Orchester einer der außergewöhnlichsten Komponisten! Sagt Dirigent Pablo Heras-Casado, der zur Eröffnung der Wagner Festspiele in Bayreuth den "Parsifal" dirigiert. Es gehe ihm um die "rhetorische Kraft der Musik". Eine Erfahrung, die ihn den Rest seines Lebens begleiten wird.
Bildquelle: Dario Acosta
Pablo Heras-Casado über Wagners Parsifal
"Es muss alles im Fluss sein!"
BR-KLASSIK: Pablo Heras-Casado, was ist Ihre erste Erfahrung, die Sie mit Bayreuth hatten? Oder wann waren Sie das erste Mal hier?
Pablo Heras-Casado: Es war ein sehr seltsamer Moment in meinem Leben, aber sehr wichtig für mich. Und ich sage sehr seltsam, weil ich 22 oder 23 Jahre alt war, als Geschichtsstudent aus Granada. Ich begann, verschiedene Ensembles zu dirigieren. Und ich war an vielen Dingen interessiert. Sie gaben mir ein Stipendium, wodurch ich tolle Meisterkurse bei Dirigenten gemacht habe, auch eine Residenz. Und so kam ich kam hierher - das war mein allererster, sehr intensiver Kontakt mit Bayreuth, über drei Wochen. Ich habe viele Stücke von Max Reger, Hugo Wolf, Anton Bruckner gesungen. Ich konnte auch zum ersten Mal im Festspielhaus dabei sein, einem "Ring“-Zyklus beiwohnen. Und das war ein großer Eindruck von Wagner und meine erste Erfahrung mit ihm. Sie hat mich danach nie mehr losgelassen.
BR-KLASSIK: Wer war der Dirigent dieses "Ring“-Zyklus?
Pablo Heras-Casado: Der Dirigent war Adam Fischer: Er hatte den "Ring“ von Giuseppe Sinopoli übernommen, der zuvor gestorben war.
BR-KLASSIK: Und Sie sagen, Sie haben gesungen? Wo haben Sie Liederabende gegeben?
Pablo Heras-Casado: Ich habe damals schon mein Leben lang gesungen. Damals fing ich auch an, Chöre zu dirigieren, und ich war sehr interessiert daran. In der Akademie gab es Musikerinnen und Musiker aus ganz Europa, einen wunderbaren Chor. Und wir bereiteten ein sehr anspruchsvolles Repertoire vor, sangen in Bamberg in einer wunderbaren Kathedrale. Ich möchte Bamberg wieder besuchen diesen Sommer! Ich erinnere mich, dass dieses Konzert voller Licht war: Wir sangen Bruckner-Motetten. Und dann haben wir eine kleine Tournee durch die Region gemacht.
BR-KLASSIK: Sie haben ein sehr breites Repertoire, haben Wagner natürlich auch schon dirigiert, den "Ring“ in Madrid zum Beispiel. Welche Bedeutung hat Wagner für Sie in diesem Repertoire, das ja von Barockmusik bis zu zeitgenössischer Musik geht?
Für mich nimmt Wagner einen zentralen Platz in meinem Leben und in meinem Repertoire ein.
Pablo Heras-Casado: Und natürlich ist es jetzt, wo ich in Bayreuth bin, sechs Wochen lang geprobt habe und den ganzen Sommer hier verbringe, leicht zu sagen. Aber seit ich angefangen habe, seine Musik zu dirigieren, sehe ich es wirklich so: Wagner verdichtet die ultimative Idee dessen, worauf die Musikgeschichte abzielt! Kürzlich kam für mich die Monteverdi-Trilogie an der Wiener Staatsoper hinzu. Es gibt offensichtlich eine sehr starke Beziehung zwischen Monteverdi und Wagner: Die Idee von der Oper, die Monteverdi hatte, nimmt Wagner wieder auf. Wobei die Worte und das Drama der Kern und der Schlüssel sind. Davon wird die gesamte Struktur der Musik erzeugt. Und natürlich: Wagner ist für ein Orchester einer der außergewöhnlichsten Komponisten! Wir alle wissen das. Das Orchester bietet eine Reflexion des geistigen, emotionalen oder psychologischen Zustands, den Wagner mit jedem Wort erzeugen will. Jedes Wort, jeder Moment, jede Rolle bringt eine komplexe Welt der Klänge hervor. Es geht um die reine Essenz, bei der die Art und Weise, wie der Text das Ganze trägt, die Hauptrolle spielt. Und für mich, der ich von der Stimme, von der Arbeit mit Sängerinnen und Sängern komme, geht es um die Rhetorik der Musik - die rhetorische Kraft der Musik. Mit den Worten, aber auch mit dieser wunderbaren Verwendung der Leitmotive. Es ist eine rhetorische Geste an sich. Diese Erfahrung ist für mich wichtig und etwas, das mich den Rest meines Lebens begleiten wird.
BR-KLASSIK: Das Wort ist sehr wichtig, das Wort steht im Zentrum: Was bedeutet das für Ihre Arbeit mit dem Orchester, besonders hier in Bayreuth, in der ganz besonderen Akustik und dem ganz besonderen und einzigartigen Orchestergraben?
Pablo Heras-Casado: Nun, ich könnte sagen, es ist eine der wunderbarsten Erfahrungen meines musikalischen Lebens. Dieses Orchester ist ein Wunder! Es ist das Ergebnis einer langen Tradition von Musikerinnen und Musikern, die neuen Generationen Platz gemacht haben, aber eine besondere Art, hier zu spielen, weitergegeben haben. Ja, und die Worte des Librettos sind in vielerlei Hinsicht auch etwas Besonderes - zunächst aus der Sicht des Publikums. Denn vom Orchestergraben sieht es nichts. Es kann weder den Dirigenten noch die Musikerinnen und Musiker sehen. Und der akustische Effekt ist, dass die Klänge des Orchesters aus dem Bühnenhintergrund kommen. Es ist die perfekte Einheit, wie ich schon sagte: Der Gesang und das Libretto erzeugen eine absolut erstaunliche Universalität von Texturen und Klängen. Dann, natürlich, dieses Stück! Es ist einfach wunderbar, ein riesiges Stück. Es hat diese Konfiguration, in der die Musikerinnen und Musiker in die Dunkelheit hinabsteigen. Und gleichzeitig ist alles sehr intim, wir fühlen uns im Graben einander nahe. Alle haben das Gefühl, dass sie von der Bühne entfernt sind, weil 80 % des Orchesters keinen Kontakt zur Bühne hat und dort nicht einmal zu hören ist. Als Dirigent muss ich wirklich die Verbindung herstellen und der "Anführer“ sein. Und dafür muss ich eine andere Art des Dirigierens entwickeln, weil es eine Verzögerung zwischen der Bühne und dem Orchestergraben gibt. Ich muss das Orchester ein bisschen früher antreiben und mich in diese besondere Umgebung einfügen. Aber - es ist ein einzigartiger Ort im besten Sinne.
BR-KLASSIK: Haben Sie es schnell gelernt oder war es ein längerer Prozess in der Auseinandersetzung mit Musikern oder Assistenten, mit denen Sie gesprochen haben?
Pablo Heras-Casado: Es ging sehr schnell, weil die Dinge funktionierten im ersten Aufzug - und auch im zweiten, der sehr anspruchsvoll ist. Ich fühlte mich auf Anhieb gut, und das Orchester auch. Ich denke also, dass alles sehr schnell funktioniert hat. Aber natürlich war ich letztes Jahr auch schon zu Besuch hier und habe mir eine Woche lang die Proben angehört, den Orchestergraben besichtigt und auch die Akustik von innen und außen verglichen. Wichtig war der Austausch mit einem Assistenten, vor allem mit einem, der seit 25 Jahren hier ist, Thielemann und viele andere betreut hat. Diese Art der Zusammenarbeit ist hier noch wichtiger als anderswo: das Vertrauen, das man seinem Team gegenüber aufbaut. Es ist ein Schlüssel zum Erfolg der Produktion.
BR-KLASSIK: Wie oft haben Sie den "Parsifal“ schon dirigiert?
Pablo Heras-Casado: Erst kürzlich - weil ich wusste, ich mache es dann hier! Als ich für diese Neuproduktion angefragt wurde, habe ich natürlich versucht, das Stück so oft wie möglich zu dirigieren, aber immer konzertant. In ein paar Städten Europas. Das hier ist meine erste szenische Produktion.
BR-KLASSIK: Bei "Parsifal“ spielt die Dauer eine große Rolle. Oft ist es statisch, es wird viel erzählt. Wie haben schon davon gesprochen: Das Wort, die Erzählung, die Dichtung steht im Vordergrund. Man merkt es allein daran: Toscanini war der langsamste Dirigent, er hat eine Stunde länger gebraucht als andere. Das ist kein Qualitätsmerkmal, wie schnell oder langsam man ist. Es geht darum, diesen Atem zu haben, alles mit dramatischer Intensität zu erfüllen. Wie gehen Sie damit um? Was spielt dieser Zeitbegriff für eine Rolle?
Pablo Heras-Casado: Ich kenne kein anderes Stück in der Musikgeschichte, für das die Frage nach dem Timing so präsent ist. Zeit im absoluten Sinn hat keinen Wert, denn gerade die Musik ist Architektur, die Kunst, die den Raum verwandeln kann. In relative und subjektive emotionale Werte, nicht nur Meter, Zentimeter oder Quadratmeter. Man kann an die Musik von Anton Webern denken, seine Mikro-Universen. Die Stücke, die 30 Sekunden dauern oder eine Minute 38. Aber mit der Intensität, die darin steckt, ist es eine vollständige Sonatenform. Eine ganze Welt in einer Nussschale. Natürlich ist "Parsifal“ ein sehr umfangreiches Werk. Aber der Diskurs muss geführt werden - und das trägt die ganze Spannung. Es muss alles im Fluss sein! Ich muss immer die komplette Szene im Blick haben, und daraus ergibt sich eine musikalische Logik, mit all ihren harmonischen Spannungen. Wagner weiß mit einer natürlichen Rhetorik für die Stimme zu schreiben: Das ist die Hauptquelle, und daraus ergibt sich das Tempo. Auch wenn es kürzer ist als bei anderen Dirigenten, was ich in meinem Fall denke: Die entscheidende Frage bleibt, ob sich genügend Raum ergibt für jeden einzelnen emotionalen Moment.
BR-KLASSIK: Wagner hat "Parsifal“ als "Bühnenweihfestspiel“ bezeichnet. Was meint das - für Sie? Vielleicht hat das ja auch mit einem gewissen Pathos zu tun, das man Gefahr läuft hineinzugeben? Durch langsame, breite Tempi?
Pablo Heras-Casado: Ich meine, diese Bezeichnung ist mit dem Spirituellen verbunden. Sie ist natürlich religiös konnotiert. Aber ich glaube nicht, dass Wagner vorhatte, "nur“ ein liturgisches oder religiöses Stück zu schreiben. Es ist größer als das. Es ist viel offener als das. Und es beinhaltet mehrere Arten von tiefsinnigen, spirituellen Konzepten. Pathos bedeutet eben nicht: schwer oder langsam oder dunkel. Dieses Stück ist voll von Licht - und Transparenz in den dunkleren Momenten. Es gibt da unendliche Nuancen, harmonische und chromatische Wechsel und Veränderungen. Im Piano und Pianissimo liegt das eigentliche Pathos dieser Musik.
BR-KLASSIK: Das ist eine ganz spezielle Produktion auch, weil Jay Scheib sie inszeniert. Es ist wie ein großes Experiment, auch weil erstmals auf einer großen Bühne Augmented Reality so eine bedeutende Rolle spielt. Wie ist das für Sie? Spielt das für Sie auch eine Rolle – diese Zusammenarbeit mit der Regie im Hinblick auf AR?
Pablo Heras-Casado: Wir hatten jetzt mehr als ein Jahr engen Kontakt, Jay Scheib hat mich auch in Spanien besucht. Wir verbrachten drei oder vier Tage zusammen mit der Musik und sprachen darüber. Es war für uns beide klar, dass die Musik das, was auf der Bühne passiert, generieren sollte. Also: Dass es ein bestimmtes Lichtdesign gibt, dass es diese Augmented-Reality-Option gibt, ändert für mich, für die Musikerinnen und Sänger nichts. Wir spielen "Parsifal“ - und der Rest ergibt sich dann.
BR-KLASSIK: Wagner hat gesagt: "Parsifal“ spielt in Spanien, hat das relativ genau beschrieben. Der erste und der dritte Aufzug im gotischen, nördlicheren Teil, der zweite Aufzug im arabischen südlichen Teil, wo Sie herstammen - Granada. Spielt das irgendeine Rolle für Sie?
Pablo Heras-Casado: Natürlich, als ich anfing, mich mit "Parsifal“, dem Libretto und einigen Schriften zu beschäftigen, war ich sehr glücklich und stolz zu erkennen: Es spielt in Spanien! Ein sentimentaler Standpunkt. Ich bin in einem katholischen Land aufgewachsen. Doch die Religion hat nicht mehr diesen starken Einfluss - oder diese Macht wie früher. Kulturell ist es natürlich ein Land, in dem unser Erbe in Form von Museen und Klöstern, Kirchen und all der Musik fortlebt. Selbstverständlich ist die Musik des 16./17.Jahrhunderts bedeutend, aber auch die arabische Kunst: Es gibt in Andalusien immer noch einen der schönsten Paläste der Welt! Und für mich? Ich würde sagen, diese katholische Referenz ist für mich als Kind wichtig gewesen. Ich habe in der Kirche gesungen, einige liturgische Dienste gemacht. Ich kenne die ganze Liturgie und die religiöse Musik sehr gut. Daher ist es für mich etwas Besonderes, diese Art von Liturgie auch im Theater zu feiern. Es ist geistliche Musik - aber offen für alle...
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