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Kritik – Andris Nelsons in Salzburg Mahler, Berg und ihre Engelsklänge

Andris Nelsons und die Wiener Philharmoniker sind bei ihrem auf Jahre hinaus projektierten Mahler-Zyklus bei den Salzburger Festspielen auch schon mal in verschleppter Larmoyanz gelandet. Nicht so diesmal, bei der Symphonie Nr. 4, in der Christiane Karg zuletzt traumhaft schön vom "Himmlischen Leben" kündete. Aber auch Augustin Hadelich machte den Vormittag als Solist in Alban Bergs Violinkonzert zum Ereignis.

Bildquelle: SF/Marco Borrelli

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Was hat es mit dem Paradies in Gustav Mahlers Symphonie Nr. 4 auf sich? Konkret beschrieben wird es im liedhaften Finale – mit Worten aus "Des Knaben Wunderhorn", wurzelnd in der Vorstellungswelt einer armen Seele, der im Diesseits gewöhnlich der Magen knurrt. Selbstverständlich trägt auch die Sopranistin Christiane Karg an diesem Vormittag in Salzburgs Großem Festspielhaus die Aufzählung vor allem lukullischer Genüsse mit dem nötigen Augenzwinkern vor. Das schönste, schwebendste Pianissimo jedoch hebt sich diese kluge Sängerin für die letzte Strophe auf, wenn es erst wirklich jenseitig wird und es um die "englische" Musik geht, die hier natürlich nichts mit dem United Kingdom zu tun hat, um die wahren Sphärenklänge. Sphärenklänge, bei denen nicht nur "Sankt Ursula selbst dazu lacht", in einem humoristischen Glissando nämlich, sondern durch die auch "alles für Freuden erwacht". Dabei lässt Mahler gerade nach dieser Ankündigung den Satz und damit die Symphonie ganz im Gegenteil einschlummern, zu Nichts werden, verlöschen: eine wundersam poetische Idee. Und die Wiener Philharmoniker, von Andris Nelsons mit klaren, sparsamen Gesten geleitet und vor allem nicht gestört in ihrer Klangentfaltung, treffen diese Stimmung auf eine ungemein anrührende Weise.

Gemischtes Gesamtbild bisheriger Symphonien

Der lettische Dirigent, einst Protegé von Mariss Jansons, ist seit 2014 Musikdirektor des Boston Symphony Orchestra sowie seit 2018 Gewandhauskapellmeister in Leipzig. Bei den Wiener Philharmonikern hat Nelsons 2010 debütiert, 2020 dirigierte er erstmals ein Neujahrskonzert: der prestigereichste Termin, den das Orchester zu vergeben hat und den man sich erst durch eine entsprechend lange und ertragreiche Zusammenarbeit verdienen muss. Seit 2018 besteht diese im Rahmen der Salzburger Festspiele in einem Mahler-Zyklus, der (mit einem Jahr Pause) bislang die Symphonien 2, 6, 3 und 5 umfasst hat. Diese Aufführungen ergaben allerdings einen zwiespältigen Gesamteindruck: Großartigen, eindringlichen Interpretationen, zumindest der Sechsten und Dritten, stand etwa im letzten Sommer eine Fünfte gegenüber, bei der Nelsons in Schwächen zurückfiel, die sich schon früh in seiner rasanten Karriere offenbart hatten. Schien er seinerzeit ohne Maß und Ziel Höhepunkt auf Höhepunkt türmen zu wollen und erreichte damit vor allem Abstumpfung und Ermüdung, wiederholte sich das Spiel 2022 auf einer neuen Ebene. Nicht Lautstärkegrade überboten einander, sondern immer noch langsamere Stellen des Nachlauschens und Innehaltens im Rahmen einer in Summe ohnehin schon schleppenden Tempodramaturgie. Das zog sich, um kurz zur Kochkunst zurückzukehren, wie der sprichwörtliche Strudelteig.

Nelsons als Verwalter der prächtigen Sphärenklänge

Wiener Philharmoniker mit Andris Nelsons und Christiane Karg | Bildquelle: SF/Marco Borrelli Christiane Karg zaubert in der letzten Strophe Mahlers 4. Symphonie das schönste, schwebendste Pianissimo. | Bildquelle: SF/Marco Borrelli Ganz anders diesmal. Obwohl es zumindest im Kopfsatz von Mahlers Vierter noch wirkte, als könnte die Deutung ein bisschen mehr ironische Distanz und Schärfe vertragen – und Nelsons um Nuancen zu behäbig agieren. Aber nach einer Weile konnte man das gelassene Understatement durchaus genießen, das hier den Grundton bestimmte. Die Philharmoniker ein Stück weit in Ruhe zu lassen, ihnen Entfaltungsspielraum zu geben, nicht im Moment der Aufführung noch ständig etwas zu fordern, sondern es entstehen zu lassen: Das hat sich an ihrem Pult immer wieder als Tugend herausgestellt. Nelsons war also das, was dieses Orchester im günstigsten Fall zu herausragenden Ergebnissen zu nützen weiß: ein bedachtsamer Verwalter seines Goldklangs, der ja durchaus nicht nur oberflächlich schön ist, sondern sich aus klagenden Klezmerfarben, frechem Naturlaut, musikantischem Schwung und vielem mehr gleichermaßen zusammensetzt. Und in alter "deutscher" Sitzordnung mit den zweiten Geigen rechts schlüsseln sich auch die erwähnten Sphärenklänge aufs Prächtigste auf.

Nelsons Glaube an das Paradies

Und schließlich begriff man: Nelsons liest hier nicht mit ironischer Distanz aus einem Märchenbuch vor, wie es manche Erwachsene für Kinder tun, sondern lässt sich selber hineinziehen in die Geschichte, will ans naiv geschilderte Paradies glauben. Ein Paradies, das wir im ein bisschen gespenstischen Trubel des zweiten Satzes in dessen Mittelteil erahnen dürfen, in der weihevollen Ruhe des dritten schon zu genießen glauben, bis im großen Fortissimo-Durchbruch erst die Himmelstore aufgestoßen werden. Ein paar winzige Unsauberkeiten störten dabei niemals die Stimmung – und auf die kommt es an.

Stimmung in Bergs Violinkonzert meisterhaft getroffen

Die richtige Stimmung war aber schon vor der Pause meisterhaft getroffen: in Alban Bergs Violinkonzert, diesem schmerzlichen Requiem, entstanden als Nachruf auf die 18-jährig an Kinderlähmung verstorbene Manon Gropius, die Tochter von Mahlers Witwe Alma und ihres zweiten Mannes, des Architekten Walter Gropius. In diesem letzten vollendeten Werk Bergs, der 1935 an einer Blutvergiftung zugrunde gegangen ist, existiert das von Maher beschworene Paradies nur noch als Hoffnung, nicht als Zustand – oder als erschüttert festgehaltene Erinnerung.

Empfindsamer und glühender Vortrag Hadelichs

Wiener Philharmoniker mit Andris Nelsons und Augustin Hadelich | Bildquelle: SF/Marco Borrelli Augustin Hadelichs Vortrag ist empfindsam und glühend zugleich. | Bildquelle: SF/Marco Borrelli Augustin Hadelich erfüllt den schwierigen Solopart auf Schritt und Tritt mit Emotion und Fragilität gleichermaßen. Sein Pianissimo ist echt und bleibt nicht in einer nur halb gedämpften Rampenlichtattitüde hängen, der Vortrag ist empfindsam und dennoch glühend. Melancholie regiert, auch im Zusammenspiel mit dem Orchester, das sich zu intimen kammermusikalischen Dialogen einfindet, etwa mit Samtpfoten sein Walzer-Hmtata beisteuert – und unter Nelsons unauffällig-sachdienlicher Leitung auch die großen Steigerungen so setzt, dass die Schreckensfarben stimmen, die orchestralen Kräfte aber den Solisten nicht begraben. Die wehmütigen Zitate der Kärntner Volksweise, das Akzeptieren des vielsagenden Bach-Chorals "Es ist genug", der diesmal breit, aber nicht sentimental angelegte Abgesang: Bergs Trauerflor-Zwölftonmusik ließ die Herzmuskeln empathisch vibrieren.

Großer Jubel also, nicht zuletzt für den famosen Augustin Hadelich. Und das Andante aus Bachs Sonate BWV 1003 als Zugabe.

Sendung: "Allegro" am 7. August 2023 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK

Kommentare (2)

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Montag, 07.August, 09:01 Uhr

Dr.Norbert Rinner

Mahler, Berg und ihre Engelsklänge

Ihre Kritik beschreibt das Konzert wunderbar, schöner kann man Mahlers 4. nicht spielen und interpretieren. Für mich war es eine musikalische Sternstunde, vor allem der 3.Satz, perfekt! Dank und großes Lob für Andris Nelsons, Christiane Karg, Augustin Hadelich und natürlich die Wiener Philharmoniker!

Sonntag, 06.August, 19:27 Uhr

Fristra

Nelsons Hadelch Salzburg

Ja, es war schlichtweg großartig.

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