"Live" ist Martin Kohlstedts liebster Aggregat-Zustand. Dann bastelt er seine Klavierstücke wie Legosteine neu zusammen, lässt sie auf Raum und Publikum reagieren. Seine Improvisationen klingen jedes Mal überraschend anders. Festgehalten hat das sein aktuelles Album "LIVE".
Bildquelle: Martin Kohlstedt (via YouTube)
Wenn Martin Kohlstedt ein Konzert gibt, umringen ihn Flügel, Synthesizer, Elektronik. Sein Set-Up sieht aus wie eine instrumentale Spielwiese – Martin Kohlstedt wechselt zwischen seinen Instrumenten hin und her, spielt Melodien ein, verzerrt sie mit Elektronik. Es wirkt, als würde er alles um sich herum ausblenden. Doch im Gegenteil: Während Martin Kohlstedt seine Klaviaturen bedient, nimmt er sein Publikum und den Raum ganz genau wahr – egal ob er sich im kleinen Club befindet, wo er das Atmen des Publikums bis auf die Bühne hört, oder ob er in einem riesigen Saal mit hohen Decken spielt, zum Beispiel in der Elbphilharmonie in Hamburg, wo sich seine Stücke in epische Klangkathedralen verwandeln.
Ich habe das allererste Mal mitten im Konzert aufgehört zu spielen.
Es war 2017 in der Elbphilharmonie in Hamburg, als Martin Kohlstedt etwas klar wird. Während seines Konzerts vor mehr als 2.000 schick angezogenen erwartungsvollen Menschen sitzt er am Klavier, spielt und realisiert irgendwann, dass er sich sein Konzert in der Elphi eigentlich ganz anders vorgestellt hat. Kohlstedt bricht das Spiel ab, erklärt sich dem Publikum und fängt noch mal neu an – und verwirft seine Setlist. Er gibt sich seiner Intuition hin, versucht, im Moment die Grenzen seiner eigenen Songs zu sprengen, Neues zu erfinden. "Von da an brach eine große Leichtigkeit aus", erinnert sich Martin Kohlstedt im BR-KLASSIK-Interview.
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Martin Kohlstedt - live at Elbphilharmonie Hamburg 2017
Der Live-Moment ist das, worauf der Pianist Martin Kohlstedt hinarbeitet. Gespeist wird seine Performance aus den zahlreichen Stücken, die er bereits auf seinen Alben festgehalten hat. Klavier-Stücke aus zerbrechlichen Melodien mit einem Hauch von Melancholie, die immer vorwärtsgehen, Lust haben, sich weiterzuentwickeln. Auf der Bühne variiert er sie, setzt sie "wie Legosteine" neu zusammen, lässt sie miteinander interagieren. Anders kann sich Martin Kohlstedt seine Konzerte gar nicht mehr vorstellen. "Ich muss sagen, dass Musik, wenn man sie nicht konstruiert, sondern walten lässt, ganz andere Verbindungsmomente erschaffen kann."
Martin Kohlstedt | Bildquelle: Mike Zenari
Kann man die Atmosphäre eines Live-Moments auf einem Album festhalten? Martin Kohlstedt und sein Team haben es probiert. Auf seinem im Herbst 2024 erschienenen Album "LIVE" hat der Musiker aus hunderten von Aufnahmen, die quer durch Europa in unterschiedlichen Locations entstanden sind, eine Auswahl getroffen. Die dokumentiert die einmalige Energie während seiner Konzerte. Mit gespitzten Ohren lässt sich nicht nur hören, wie er seine Stücke miteinander verwebt und ausdehnt, sondern man kann auch wunderbar vergleichen, wie unterschiedlich sich der Raum auf die Musik auswirkt. Seine Improvisation im Wiener Konzerthaus will mit mächtigen Klängen den großen Saal ausfüllen, im Bogen F in Zürich ist sie intim, zärtlich, auf dem Amsterdam Dance Event ist die Improvisation tanzbar. In die Aufnahme mischt sich Gelächter und wilder Applaus.
Live entsteht eine Energie, nach der man süchtig wird.
Martin Kohlstedt gibt im BR-KLASSIK-Interview zu: Er habe ein bisschen gebraucht, um auf der Bühne richtig loszulassen. Geholfen habe ihm dabei die Erinnerung an seine Kindheit, als er mit offenem Mund vor dem Klavier gesessen und Ton für Ton die Tasten erkundet hat. Und er habe sich von diesem einengenden Gedanken befreien müssen, für die Unterhaltung eines Publikums verantwortlich zu sein. Mittlerweile ist es nämlich genau andersherum: Die Menschen kommen, um ihn – Martin Kohlstedt – zu sehen und in seine musikalische Welt einzutauchen. Der Beweis, dass das klappt, sind die vielen Kommentare des Publikums, die im Booklet seines Albums "LIVE" abgedruckt sind: “Frage mich, wie sein Hirn funktioniert und was da alles in ihm passiert. [...] Welche emotionale Reise das für mich bedeutet, ist ein ganz anderes Thema.” (Paul) "I was so surprised. I haven’t experienced so much authenticity in a live concert for a long time. Thank you for letting me be there." (urbanx)
Am 11. April 2025 in der Tafelhalle in Nürnberg und am 15. April 2025 im WERK7 in München.
Sendung: "Sweet Spot" auf BR-KLASSIK am 10.04.2025 ab 19:03 Uhr
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