Funkelnde Instrumente, traurige Akkorde und schwelgerische Melodien. Was manche als Kitsch abtun, hat sich zu einem Genre zwischen Klassik und Pop entwickelt. Die auf Englisch "Modern Classical" genannte Musikströmung der Neoklassik vereint romantische Musik mit Einflüssen aus Minimal Music und Filmmusik. Grund genug, hier zehn herausragende Stücke dieses Genres zu präsentieren.
Bildquelle: landscape Leiter Verlag
Als eine der Galionsfiguren des Musikgenres Neoklassik darf Nils Frahm in dieser Liste natürlich nicht fehlen. Der Berliner Pianist hat inzwischen ein beachtliches und vielseitiges Werk vorzuweisen, doch "Says" von seinem Live-Album "Spaces" von 2013 bleibt eines seiner herausragendsten Werke. Mit welcher Konzentration, Genauigkeit und melodischer Stilsicherheit sich Frahm im Aufbau über ein einzelnes Synthesizer-Arpeggio bewegt, ist beeindruckend. Als sich dann nach sechs Minuten der erste Harmoniewechsel ereignet, ist es, als rücke nach dem minutenlangen Starren in den Nachthimmel auf einmal ein völlig neuer Himmelskörper in den Fokus. Ein Meisterwerk.
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Nils Frahm - Says (Official Music Video)
Das Stück "Eden" vom 2019er Debütalbum der polnischen Pianistin Hania Rani ist eines jener Stücke, die sich im Gehirn festsetzen und den Anschein erwecken, als hätten sie dort schon immer gelebt. Rani präsentiert einen für das Genre typischen Klaviersound, der Nebengeräusche, Knarzen, Klappern, die Hämmer und den Filz auf eine Ebene mit den Tönen stellt. Die perfekte Kontrolle all dieser Elemente, gepaart mit ihrem unverkennbaren Melodiegefühl und herausragenden Klavierspiel machen "Eden", wie ihr gesamtes Werk gleichzeitig zeitlos und zeitgemäß.
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Hania Rani - Eden (Official Video) [Gondwana Records]
Eine weitere Veröffentlichung auf dem für das Genre der Neoklassik zentralen Label "Erased Tapes". Das Duo "A Winged Victory for the Sullen" besteht aus den Komponisten Dustin O’Halloran und Adam Bryanbaum Wiltzie. Auf ihrem Debütalbum von 2011 kombinieren sie stehende Gitarrenakkorde (sogenannte “Drones”) von Wiltzie mit dem minimalistischen Klavierspiel von O’Halloran. Inzwischen haben sie weitere Alben und erfolgreiche Soundtracks komponiert, doch dem zärtlichen Zusammenspiel auf ihrem ersten Album wohnt ein ganz besonderer Zauber inne. Ein gutes Beispiel dafür ist "We Played Some Open Chords And Rejoiced, For The Earth Had Circled The Sun For Another Year".
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We Played Some Open Chords and Rejoiced, for the Earth Had Circled the Sun Yet Another Year
Als Cellistin ist Anne Müller eine Ausnahme in einer Musikströmung, die in erster Linie für verträumte Klavierballaden bekannt ist. Im Stück "Drifting Circles" von ihrem bisher einzigen Soloalbum "Heliopause" von 2019 lässt sie Cello und Stimme in einem vielschichtigen Strudel aus Lagen und Loops miteinander verschmelzen. So entsteht ein faszinierender Klangraum, der in seiner Größe und Detailliertheit weniger an Romantik und Filmmusik denken lässt, sondern viel eher in der Tradition von Minimal Music und der Neuen Musik der sechziger Jahre zu verorten ist.
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Anne Müller - Drifting Circles
Der Düsseldorfer Pianist kommt im Gegensatz zu vielen anderen Vertreter*innen des Neoklassik-Genres impressionistischer und verspielter daher. Das Stück "less" von seinem zweiten Album "et" (2021) ist ein Beispiel für sein zartes und doch bestimmtes Klavierspiel. Die Spielweise wirkt suchend, zärtlich, beinahe improvisiert; doch jeder Ton, jeder Akkord, jedes Cluster stehen exakt dort, wo sie stehen sollen. Der Klang des Klaviers ist bei ihm nicht atmosphärisch, sondern sehr klar. Die Nebengeräusche und das Klappern der Hämmer treten nicht vordergründig auf, im Zentrum stehen die Töne und ihr Zusammenklang. Der Thelonious Monk der Neoklassik.
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Tom Blankenberg - Less (Official Video)
Das Duo Grandbrothers ist ein außergewöhnliches Projekt. Der Pianist Erol Sarp und der Ingenieur und Softwaredesigner Lukas Vogel bearbeiten den Flügel gleichermaßen technisch, künstlerisch und technologisch. Dabei entstehen außergewöhnliche Kompositionen, die sowohl elektronisch als auch pianistisch sind. Ihr aktuelles Album “Late Reflections” entstand im Kölner Dom und dokumentiert klanglich wie künstlerisch die Kollaboration mit diesem erstaunlichen Bauwerk. So vermag auch das Stück “On Solid Ground” die Größe dieser Kirche zu vermitteln, die die Grandbrothers mit ihrer Musik ausgezeichnet zu füllen wissen.
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Grandbrothers - On Solid Ground (Official Audio)
Der Düsseldorfer Pianist und Komponist Hauschka (bürgerlich: Volker Bertelmann) ist einer der vielen Künstler des Genres, der als Filmkomponist erfolgreich ist. 2023 gewann er für seinen Soundtrack für den Film "Im Westen nichts Neues" sogar den Oscar. Im Zentrum seiner Kompositionen steht häufig das präparierte Klavier. Durch Abkleben der Hämmer, elektronische Klangerzeuger auf den Saiten und viele weitere Modifikationen am Klavier entsteht so der typische Hauschka-Sound. Auf seinem wegweisenden Album "Salon des Amateurs" kombiniert er diesen mit Schlagzeug, Bläsern und Streichern zu jubilierenden und – für die Neoklassik – ungewohnt tänzerischen Stücken.
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Hauschka – Radar
Das Genre der Neoklassik ist eines jener Genres, die schwer zu fassen sind und wird von den meisten Künstlerinnen und Künstlern, die zu ihm gezählt werden, nicht oder nur zähneknirschend akzeptiert. Die Grenzen zu anderen Genres, vor allem zur Filmmusik, sind fließend. Einer, der besonders aus diesen Genregrenzen herausbricht, ist der isländische Komponist Jóhann Jóhannsson. Er starb 2018 im Alter von 48 Jahren und war zuvor vor allem als Filmkomponist erfolgreich. Im Stück "The Sun’s Gone Dim and the Sky’s Turned Black" von 2006 setzt er – untypisch für das Genre – Gesang mit Text ein. Dieser ist jedoch elektronisch stark verfremdet und erzeugt, im Kontrast zum elegischen, orchestralen Unterbau ein Gefühl von besonderer Traurigkeit und Einsamkeit. In Erinnerung bleibt auch die melancholische Musik zu seinem Album "Orphée".
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The Sun's Gone Dim and the Sky's Turned Black
Der ukrainische Pianist ist ein weiterer Vertreter der Musikergattung "verwuschelter Mann am Klavier", die einige Akteure dieses Genres recht zielsicher zusammenfasst. Doch ein solch billiger Scherz wird dem Spiel Melnyks nicht gerecht. Im Stück "Parasol" von seinem treffend betitelten Album “Rivers and Streams” strömen seine virtuosen Arpeggios und Melodien zusammen und bilden viele kleine Wellen in einem Meer aus Tönen, Obertönen und Resonanzen. Auch hier fühlt man sich an Werke der Minimal Music erinnert, allen voran Simeon ten Holts "Canto Ostinato".
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Lubomyr Melnyk - Parasol
Den Abschluss macht das Stück "Seedling" der britischen Pianistin Poppy Ackroyd vom Album "Pause" von 2021. Die romantische Komposition weist jene Merkmale auf, die das vielseitige Genre der Neoklassik so erfolgreich machen: Emotionale Melodien, die beim Zuhören das Gefühl erzeugen, das eigene Leben sei ein Film und dies der Soundtrack. Und eben Kompositionen, die Instrumente und Spieltechniken aus der Welt der klassischen Musik präsentieren und zelebrieren und so, ganz nebenbei, mit Genregrenzen und -definitionen brechen.
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Poppy Ackroyd - Seedling (Official Video)
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