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90 Jahre Operettentheater Kiew Operette in Zeiten des Kriegs

Als Russland die Ukraine überfiel, schlossen zunächst alle Theater. Zu gegenwärtig war der Krieg, zu unsicher das Kriegsgeschehen, zu geschockt waren die Menschen. Bald schon öffneten die Theater wieder ihre Türen und sind seitdem gut besucht. Je schlimmer die Zeiten, desto größer das Bedürfnis nach Ablenkung und Zerstreuung – und nach Operette! Am 19. Dezember feierte das Theaterhaus sein 90. Jubiläum. Ein Besuch in Kiew.

90. Geburtstag des Operettentheaters Kiew | Bildquelle: Artem Galkin

Bildquelle: Artem Galkin

Seit über zwei Jahren läuft der Spielbetrieb im Kiewer Operettentheater wieder, allerdings mit weniger Produktionen. Die Probenarbeit ist wegen der vielen Fliegeralarme und Stromausfälle weiterhin schwierig. Immerhin gibt es jetzt einen eigenen Generator, der den Spielbetrieb garantiert. Doch noch immer werden die Menschen jede Nacht mehrmals aus dem Schlaf gerissen. Über eine App erfahren sie dann, ob sie einen Schutzkeller aufsuchen sollten oder ob es sich nur um einen Drohnenangriff handelt. Trotzdem wird weitergeprobt, zum Teil im Bunker, wie Mykola Butkovsky, Schauspieler am Haus, erzählt.

90. Geburtstag mit Musik von Johann Strauss und Franz Lehár

Für ihn wie für seine Kolleginnen und Kollegen war es deshalb umso wichtiger, das 90. Jubiläum des Theaters gebührend zu feiern. Und das haben sie am 19. Dezember in einer großen Gala mit Ausschnitten aus aktuellen Inszenierungen auch ausgiebig getan. Zu sehen waren Ausschnitte aus gängigen Titeln wie "Fledermaus", "Lustige Witwe" oder "Gräfin Mariza" und ein großes Potpourri von Emmerich Kálmán-Titeln – ein Komponist, der sich auch in der Ukraine großer Beliebtheit erfreut. Hier entspricht die Operette noch ganz ihrem plüschigen Klischee von Walzerrausch und Csárdástanz, von Samt und Seide, Glitzer und viel Gold. Das zeigt sich in Dekoration und Kostümen, in der farbenfrohen Lichtregie, aber auch in der Innenausstattung des Theaters selbst. Es wurde erst 2021 in einer Art postsowjetischem Neo-Barock renoviert, der an Pracht den historischen Bau deutlich übertrifft.

Vom Theaterhaus zur Turnhalle – und zurück

Errichtet wurde das Theater nämlich 1902 als eine Art Volksbildungshaus für die im zaristischen Russland unterdrückte ukrainische Kultur. Es gab eine Bibliothek, Unterrichtsräume und eine Bühne, auf der die ersten ukrainischen Theateraufführungen in Kiew stattfanden. Es waren musikalische Volkstücke wie "Eneyida", eine Antiken-Travestie im Kosakenmilieu. Nach der Oktoberrevolution wurde das Theater aufgelöst und zur Turnhalle umfunktioniert. Erst 1934 wurde es als Musikalische Komödie wiedereröffnet – das eigentliche Geburtsdatum des Theaters vor 90 Jahren. Vom damaligen Repertoire steht freilich nur noch ein Stück auf dem Spielplan: "Der Jahrmarkt von Sorotschinzy" von Oleksiy Ryabow, das bis heute als die ukrainische Nationaloperette gilt. Leider stand sie nicht auf dem Programm der Geburtstagsgala am 19. Dezember. Hier dominierten Kálmán und Lloyd Webber. Auch das Musical spielt mittlerweile eine erhebliche Rolle im Repertoire, sozusagen als Zeichen der ästhetischen Westbindung. Die hat Intendant Bogdan Strutyniski in seiner Begrüßung ironisch betont, indem er eine neue Abkürzung für sein "Nationales Akademisches Theater der Operette" vorstellte: NATO!

Würdigte Mitglieder des Theaters: Ex-Boxer Vitali Klitschko

Das Publikum dankte ihm mit frenetischem Applaus, ebenso wie die Vertreter der ukrainischen Regierung und Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko. Der ließ es sich nicht nehmen, einzelne Mitglieder des Theaters für ihre Verdienste persönlich auszuzeichnen. 15 von ihnen leisten aktuell Militärdienst. Ein Schauspieler wurde in einer Liveschalte von der Front zugeschaltet, ein bewegender Moment, wie überhaupt der Krieg auf dieser Gala gegenwärtig war. Sei es, dass fast jeder Beitrag mit dem Ruf "Slava Ukraina!" ("Ruhm der Ukraine") beendet und vom Publikum erwidert wurde oder dass sich das ganze Publikum erhob, um in einer Schweigeminute der beiden Freiwilligen aus dem Ensemble zu gedenken, die im Donbass gefallen sind, darunter ein 26-Jähriger Balletttänzer.

Die Operette spielt für die kulturelle Identität eine wesentliche Rolle

Umso mehr war es seinen Kollegen deshalb ein Bedürfnis zu zeigen, wie wichtig Kultur gerade in diesen Zeiten und wie wichtig scheinbar nur unterhaltendes Theater wie die Operette ist. Und sei es, um für einen Abend einmal "der ganzen Welt Misere" zu vergessen, wie es in einem Lied aus der in Kiew beliebten "Csárdásfürstin" heißt, die im Krieg entstanden ist. Gesungen wurde es auf Ukrainisch, was schon zu Sowjetzeiten so war. Immerhin war das Kiewer Operettenhaus auch Kiews erstes ukrainisches Theater gewesen. Und so spielt im gegenwärtigen Ringen der Ukraine um die eigene kulturelle Identität die Operette eine wesentliche Rolle. Dieser Aufgabe widmet sich das Haus seit nunmehr über 20 Jahren, seit es vom jetzigen Intendanten Oleksander Stutynski übernommen und erneuert wurde. Das ist überall zu spüren: beim Orchester, beim Ballett, den Solisten und nicht zuletzt beim Publikum, das begeistert applaudiert und sein Ensemble feiert.

Als der Vorhang fällt, können viele Sängerinnen und Sänger nicht mehr an sich halten und weinen, wie Schauspieler Mykola Butkovsky erzählt. Es ist harte Arbeit, das Publikum jeden Abend die Kriegsrealität vergessen zu lassen. Am nächsten Morgen schlägt 800 Meter vom Operettentheater entfernt eine russische Rakete ein.

Sendung: "Operetten-Boulevard" auf BR-KLASSIK am 22. Dezember 2024 um 21:03 Uhr

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