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"Mr. Bach" Helmuth Rilling wird 90 Thrilling Rilling

Jahrzehntelang war er ein – wenn nicht sogar DER führende Bachinterpret: als Dirigent und Chorleiter, aber auch als leidenschaftlicher Pädagoge und als eloquenter Musikvermittler. Er schuf sich dafür sogar seine eigene Institution: die Bach-Akademie. Am 29. Mai wurde Helmuth Rilling 90 Jahre alt.

Der Chorleiter, Musikpädagoge und Bach-Interpret Helmuth Rilling dirigiert am 05.09.2017 während einer Probe in Stuttgart Bachkantaten. | Bildquelle: picture alliance / dpa / Sebastian Gollnow

Bildquelle: picture alliance / dpa / Sebastian Gollnow

"Rilling is thrilling" – diesen Spruch trugen Studierende der Bachakademie in Stuttgart, die aus den USA kamen und beim Oregon Bach-Festival in Eugene teilgenommen hatten, mit Stolz auf ihren T-Shirts. Sie waren begeistert davon, was ihnen der Mann aus dem Schwabenland, Helmuth Rilling mit Namen, in die von seiner Heimat 10.000 Kilometer entfernte Universitätsstadt Eugene mitgebracht hatte: die Musik Bachs nämlich. Und seine, Rillings, unvergleichliche Art, sie zu deuten, sie zu erklären und sie schließlich auch aufzuführen. Am Ende stand Kenntnis, Hingabe, Begeisterung. Und nicht nur in den USA – Helmuth Rilling hat sein Modell der "Bach-Akademie" in fast alle Welt exportiert, in die USA genauso wie nach Argentinien und Venezuela, nach Japan, in Länder Europas sowieso, Länder des ehemaligen Ostblocks eingeschlossen.

Aufgewachsen mit Musik

Wer hätte gedacht, dass ein Kirchenmusiker aus der Schwabenmetropole Stuttgart mit der immer wieder auch als kompliziert und spekulativ kritisierten Musik des Leipziger Thomaskantors Johann Sebastian Bach weltweit so viel Jubel und Enthusiasmus auslösen könnte. Der am 29. Mai 1933 in Stuttgart geborenen Rilling zu Beginn sicher auch nicht. Nun, an der Schwelle zu seinem 91. Lebensjahr, kann Helmuth Rilling auf ein Lebenswerk zurückblicken, das ihm den Titel eines "Bach-Papstes" (FAZ) oder eines "Mr. Bach" einbrachte, dazu zahllose Ehrungen, Schallplattenpreise, Doktor- und Professorentitel.

Wie war es dazu gekommen? Natürlich, die Biografie! Sohn musikalischer Eltern, der Vater Organist und Schulmusiker, die Mutter Geigerin. Deshalb früh gefördertes Interesse an Musik und allem, was dazu gehört. Orgelspiel, Gesang, Unterricht, Studium (Orgel, Chorleitung und Komposition). Gerade mal 21 war Rilling, als er den Chor gründete, mit dem berühmt werden sollte: die Gächinger Kantorei. Dazu kam ein besonderes Interesse an Glaubensfragen und Theologie, der Besuch einer evangelisch-kirchlich orientierten Schule. Aber ganz ehrlich: Das hatten, das konnten andere auch. Und wurden auch gute, gar herausragende Musiker. Es ist das Thema Bach, das Rillings Lebensweg aus den "üblichen" Bahnen katapultierte. Rilling war restlos gebannt von dem Faszinosum Bach, verschrieb sich ihm mit Leib und Seele, mit "Herz und Mund und Tat und Leben" (Kantate BWV 147).

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Helmuth Rilling (2008) | Bildquelle: picture-alliance/dpa

Herz und Mund und Tat und Leben, BWV 147: Chorus: Herz und Mund und Tat und Leben

Leonard Bernstein motiviert Rilling zur Musikvermittlung

Helmuth Rilling erkannte seine Aufgabe nicht nur darin, Bach nach seinen Vorstellungen mustergültig aufzuführen, was ihm mit dem brillant besetzten Chor und dem passend dazu formierten Orchester "Bach Collegium Stuttgart" wegweisend und regelmäßig gelang. Er begnügte sich nicht damit, als erster eine Gesamtaufnahme aller 199 erhaltenen, geistlichen Bach-Kantaten in Angriff zu nehmen (1970) und zu vollenden (1985). Was Helmuth Rilling umtrieb, war der Pädagoge in ihm: Der war beseelt vom Wunsch, seine Begeisterung, seine brennende Leidenschaft für die Musik im Allgemeinen und Bach im Besonderen auf so viele Menschen wie nur möglich zu übertragen. Sein Vorbild dabei, und er wurde nicht müde, den Namen immer aufs Neue zu nennen: Leonard Bernstein. Bei ihm hatte Rilling Kurse besucht und weit mehr als künstlerisches Know-How mitgenommen: die Liebe zur Musikvermittlung nämlich.

Klicktipp – Leonard Bernstein

Als Dirigent feierte er ebenso rauschende Erfolge wie als Komponist. Und auf dem Gebiet der Musikvermittlung hat er Epochales geleistet. Lesen Sie hier unser Portrait zum 100. Geburtstag von Leonard Bernstein.

1981 gründete er zu diesem Zweck die "Bach-Akademie". Bei Leuten, die dafür empfänglich waren – und im protestantischen, vom Wert von Bildung und Erkenntnis geprägten Stuttgart waren das viele – schlug das Konzept ein wie die sprichwörtliche Bombe. Vom ersten Tag an waren die Seminare, Referate, Proben, Meisterklassen, Workshops und Konzerte der "Bach-Akademie" bis auf den letzten Platz gefüllt. In Stuttgart hat Bach seit jeher einen hohen Stellenwert. Ein gutes Dutzend Amateurchöre beschäftigen sich auch außerhalb der Kirchenfeste mit Bachs Musik. Schon vor Rilling war Stuttgart also eine Bach-Stadt.

Ein Tag an der Bach-Akademie

Es war jedoch Rilling, der das ganze Potenzial des Bach-Kosmos entfesselte, der die Vision hatte, Bachs Musik nicht nur optimal zum Klingen zu bringen, sondern die Welt des Johann Sebastian Bach in allen seinen Facetten zu durchleuchten und darzustellen.

Ein ganz normaler Tag während einer der ersten Bach-Akademien in Stuttgart: Am Morgen Besuch von Meisterkursen so bekannter Gesangs-Solisten wie Arleen Auger, Julia Hamari und Kurt Equiluz oder prominenter Instrumentalisten oder eines Vortrages der führenden Bach-Forscher wie Georg von Dadelsen oder Christoph Wolff. Am Nachmittag Gesprächskonzert mit Rilling und Studierenden der Akademie als Ausführenden. Rilling erläutert die Eigenheiten der Komposition, die Studierenden bringen das zum Klingen. Am Abend Konzerte mit den Dozenten der Akademie, der Gächinger Kantorei und dem Stuttgarter Bach-Collegium oder mit so illustren Gästen wie dem Monteverdi Choir und den English Baroque Soloists unter ihrem Gründer und Leiter John Eliot Gardiner. Das täglich über zwei Wochen. Totales Eintauchen in Wesen, Werk und Musik Bachs – jenes Unerschöpflichen, der, wie Goethe meinte, "Meer, nicht Bach" hätte heißen sollen. Rillings Umgang mit Bach, und damit mit Musik generell, überstieg alle bis dahin bekannten Konventionen und sprengte auch die Vorstellungskräfte. Er elektrisierte. Die dermaßen aufgeladenen Akademie-Besucher in Stuttgart trugen die Botschaft in andere Länder, auf andere Kontinente.

Klicktipp – John Eliot Gardiner

"Dirigent, Aristokrat und Himmelsstürmer" – lesen Sie hier unser Portrait zum 80. Geburtstag von Sir John Eliot Gardiner.

Bach als Gemeinschaftsarbeit

Dieses totale Eintauchen, dieses "Bach around the clock" war das Rezept für Rillings Erfolg rund um den Globus. Das machte er so grundlegend anders als alle anderen Musikerinnen und Musiker – und er machte es so grundlegend überzeugend wie leidenschaftlich. Andere gaben auch großartige Konzerte, sie unterrichteten wirkungsvoll an Musikhochschulen und bei Meisterkursen. Aber Rilling hatte mehr vor Augen als beglückte Zuhörer und kunstfertige Musikstudenten. Er wollte das Verbindende in der Musik zur Wirkung bringen, Menschen im gemeinsamen Erleben, Erkennen und Diskutieren zusammenbringen.

Das Besondere, das Einzigartige an Rillings Wirken, das, was es so "thrilling" machte, war dieses "Open House" für alle. In seinen Vorträgen zu den Geheimnissen der Musik Bachs spricht er – nach wie vor – stets eine verständliche Sprache. Terminologie lässt sich nicht vermeiden bei der Beschäftigung mit der Musik. Aber Rilling lieferte in seinen Vorträgen zu jedem Fachbegriff sogleich ein klingendes Beispiel. Der Begriff und seine Bedeutung werden im Erklingen eins und damit "greifbar". Er bezog in seine Gesprächskonzerte seine hochkarätigen Solisten und Dozentinnen und Dozenten genauso mit ein wie die Studierenden. Jede und jeder aus diesen Gruppen konnte zeigen, was Musik bedeutet und wie man mit ihr umgehen kann.

Helmuth Rilling on tour

In den Bach-Akademien kulminierte die Arbeit, die Rilling im Lauf eines Jahres als Musiker und Interpret geleistet hatte. Die erste Gesamtaufnahme aller Bach-Kantaten. Die Präsenz im sehr lebhaften Stuttgarter Konzertgeschehen – mit Chormusik aus allen Epochen, von Monteverdi bis Penderecki. Und, mit zunehmender Bekanntheit seiner Arbeit und seiner Ensembles, Gastspielreisen mit der Gächinger Kantorei und dem Bach-Collegium Stuttgart in die halbe Welt: In die USA, Lateinamerika, Japan und – Israel.

Denn das Reisen mit Musik war für Rilling auch eine Sache der Verständigung der Völker. Er war 1986 der erste Deutsche, der das Israel Philharmonic Orchestra dirigierte. Mit der Bach-Akademie reiste Rilling nach Krakau und besuchte mit seinen Mitarbeitern und Mit-Künstlern das nahe gelegene Auschwitz. Der polnische Komponist Krzysztof Penderecki war sein Freund, dessen großangelegte Chor-Orchester-Komposition "Credo" brachte er zur Uraufführung. Bach-Akademien gab es später in Japan, in Ländern Latein-Amerikas und in den Ländern des ehemaligen Ostblocks. Rilling setzte nicht "einfach" auf die Macht der Musik. Er warb mit allen Mitteln um ihr Verständnis. Die Internationale Bachakademie verwandelte ihre sommerlichen Veranstaltungen in Stuttgart in das "Europäische Musikfest".

Durch die historische Aufführungspraxis ein wenig ins Abseits gedrängt

Rilling tat dies alles mit seinen eigenen Mitteln, und er war in dieser Hinsicht konsequent. Obwohl ihn eine künstlerische Freundschaft mit John Eliot Gardiner verbindet, begab er sich nicht auf den Weg der historischen Aufführungspraxis. Er war stets der Überzeugung, dass Bach mit den Instrumenten unserer Zeit die richtigen Aufführungsbedingungen hatte. Eine Gegenwart für Bach mit Musikern und Mitteln der Gegenwart. Konsequent interessierte er sich auch für die Musik der Gegenwart, widmete sich Komponist*innen wie Penderecki, Sofia Gubaidulina oder Valentin Silvestrow.

Helmuth Rilling sitzt 2008 in seinem Büro in Stuttgart. | Bildquelle: picture-alliance/ dpa | Marijan Murat Helmuth Rilling im Jahr 2008 in Stuttgart | Bildquelle: picture-alliance/ dpa | Marijan Murat Diese Konsequenz war es allerdings auch, die Rilling im Lauf der Zeit an seiner eigenen Gegenwart vorbeigehen ließ. Denn gerade die Musik, die ihm am meisten am Herzen lag, war ein Terrain, auf dem die historische Aufführungspraxis groß geworden war. Von dort aus nahm sie Einfluss auf die Zuhörer, auf die Musizierenden, auf Musikhochschulen, auf die gesamte musikalische Haltung in der klassischen Musik. Auch Rilling passte seinen Stil an, verweigerte aber die totale Gefolgschaft. Als künstlerischer Leiter der Bachakademie gab er dort noch lange den Ton an, insgesamt 31 Jahre, bis zu seinem achtzigsten Geburtstag. Dann wollte er gehen, nicht ohne über seine Nachfolge mitbestimmt zu haben. Aber das Stuttgarter Musikleben hatte sich mit den Zeitläuften verändert; auch in der Bachakademie sollten die Ideen der Aufführungspraxis angemessen Raum erhalten. Hans-Christoph Rademann, Chorleiter, Schütz- und Bach- und Originalklang-Experte aus Dresden und einstiger Akademie-Schüler Rillings, wurde zum neuen Leiter bestimmt. Und Helmuth Rilling war verstimmt. Weil seine Stimme bei der Wahl nicht gehört worden war. So verstimmt, dass es zum vorübergehenden Bruch mit der von ihm gegründeten Institution kam.

Die Wogen haben sich wieder geglättet und auch in seinem neunten Lebensjahrzehnt – das muss man erst einmal bei guter Gesundheit erreichen – konnte und kann Helmuth Rilling nicht von der Musik lassen. Er dirigiert, er interpretiert, er diskutiert. Möge er auch im zehnten Jahrzehnt die Kraft haben, so weiter zu machen.

Sendung: "Allegro" am 30. Mai ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK

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