Er ist eine Ikone der historischen Aufführungspraxis: Sir John Eliot Gardiner. Er ist Historiker, Musikforscher, Ensemblegründer, Bach-Spezialist, Chorleiter, Dirigent und – Ökobauer. Auch bei den europäischen Traditionsorchestern ist der britische Grandseigneur seit Jahrzehnten zu Gast. Am 20. April feiert er seinen 80. Geburtstag.
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München, Ende März: Applaus brandet auf im Herkulessaal, als John Eliot Gardiner das Podium betritt und das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks aufstehen lässt. Jeder Zoll ein Sir, hochgewachsene Erscheinung, selbstverständlich im Frack, würdevoller Blick ins Auditorium. Ganz unkonventionell fängt das Konzert mit einem Adagio an: Mit fließenden Gesten phrasiert Gardiner die trübseligen Kantilenen zu Beginn von Haydns f-Moll-Symphonie "La Passione" aus – was ihm berührend gelingt, kommt Gardiner doch vom Gesang her. Denn seine Karriere begann er als Knabensopran in Bach-Motetten, 1964 hat er seinen weltberühmten Monteverdi Choir gegründet, den er bis heute leitet – also seit fast 60 Jahren.
Am 20. April wird Sir John Eliot Gardiner 80 Jahre alt. BR-KLASSIK ehrt den Dirigenten mit einigen Sondersendungen – unter anderem mit Opern-Einspielungen, Aufnahmen mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, in "Klassik Stars" und als Gesprächspartner in "Meine Musik".
Längst hat der knackige Sound der historischen Instrumente bei solchem Repertoire seinen Siegeszug angetreten und die Traditionsorchester überrollt, die sich oftmals gar nicht mehr trauen, Barockmusik, Wiener Klassik oder frühe Romantik zu spielen – und das in vorauseilendem Gehorsam lieber den Spezialensembles für Alte Musik überlassen. Genau dagegen geht Gardiner mit seiner immensen Erfahrung an und trainiert die modernen Orchester in historisch informiertem Musizieren. Dazu gehört: scharfe Artikulation, atmende Phrasierung, durchhörbarer Klang.
Ich kämpfe gegen die Ghetto-Mentalität, ein Symphonieorchester dürfe weder Bach noch Händel spielen. Das ist Quatsch.
Mit dieser Einstellung ist Gardiner keineswegs der einzige. Und er betont: "Mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks ist das absolut möglich. Es ist lediglich eine Frage von Transparenz, Klarheit und Durchsichtigkeit." Wie historisch informiertes Musizieren funktionieren kann, hat Gardiner erst neulich beim Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks mit Schuberts Erster Symphonie brillant vorgeführt. Selten klang sie so frisch, so feurig und graziös. Und das war erfreulicherweise erst der Auftakt zu einem neuen Schubert-Zyklus unter seiner Leitung, der in den nächsten beiden Spielzeiten fortgesetzt wird.
Hören Sie hier das Konzert mit John Eliot Gardiner und dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks vom 24. März 2023 mit Joseph Haydn, Carl Maria von Weber und Franz Schubert.
John Eliot Gardiner beim Dirigieren | Bildquelle: © Chris Christodoulou Bei den Proben kann der Sir, der den sprichwörtlichen britischen Humor gern ins Sarkastische treibt, auch ungnädig, ungeduldig, unbequem werden – immer geht es ihm, dem Perfektionisten, darum, seinen künstlerischen Visionen möglichst nahe zu kommen. Und das heißt eben auch, am Detail zu feilen. Deutliche Worte scheut er nicht – vor allem, wenn die klassische Musik auf dem Spiel steht. So hat er kürzlich gegenüber BR-KLASSIK ganz klar Stellung bezogen gegen die angedrohten Sparmaßnahmen bei den Klangkörpern der BBC.
Harmonie findet Gardiner hingegen in der Musik, im Moment der Aufführung – und in der biologischen Landwirtschaft, die er als Versöhnung mit der geschundenen Natur betrachtet. Denn immer noch betreibt Gardiner, der aus altem britischen Landadel im Südwesten der Insel stammt, in der Grafschaft Dorset den vom Vater geerbten Gutshof mit seiner Rinder- und Schafzucht. Sicher auch ein persönlicher Ausgleich für ihn, dieses Heimkommen nach strapaziösen Tourneen. Diese Leidenschaft teilt Gardiner übrigens mit seinem Fürsprecher, dem künftigen König Charles III., der seinerseits auch wiederum ein großer Bewunderer der klassischen Musik ist. Gardiner wird im Rahmen der Krönungsfeierlichkeiten am 6. Mai dirgieren.
Harmonie ist wichtig – sowohl in der Musik als auch in der Landwirtschaft.
Das Repertoire, das Gardiner in den nunmehr fünfzehn Jahren beim Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks erarbeitet hat, steht exemplarisch für den weiten Horizont des Dirigenten: eben ein von allen "Papa Haydn"-Klischees befreiter Wiener Klassiker, die auf deren Spuren wandelnden Romantiker Mendelssohn, Schumann und Brahms, der geliebte Berlioz und dessen unpopulärer Zeitgenosse Emmanuel Chabrier.
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Symphonieorchester des BR
John Eliot Gardiner dirigiert Chabrier und Debussy
Sein Debüt beim BRSO hat Gardiner 2008 aber mit Bartók und Schostakowitsch gegeben. Sogar Uraufführungen hat er realisiert – und 1994 einen Seitensprung ins Operetten-Genre gewagt: Seine Einspielung von Lehárs "Lustiger Witwe" mit den Wiener Philharmonikern und einer illustren Solistenriege wird als Höhepunkt in Gardiners riesiger Diskografie gepriesen.
Eine Box mit 64 CDs von John Eliot Gardiner ist kürzlich beim Label Erato erschienen. Lesen Sie die Rezension von BR-KLASSIK.
John Eliot Gardiner vor einem Porträt von J.S. Bach | Bildquelle: picture-alliance/dpa "Bach ist Anfang und Ende aller Musik" – dieser Satz von Max Reger könnte auch von John Eliot Gardiner stammen. Denn die Auseinandersetzung mit der Musik des Thomaskantors hat den studierten Historiker und Ägyptologen schon früh beschäftigt – und kulminierte in seinem Mammutprojekt "Bach Cantata Pilgrimage": Im Bach-Jahr 2000 führte er mit seinen Ensembles an 60 historischen Orten alle 200 geistlichen Kantaten Bachs in der Chronologie des Kirchenjahres auf und veröffentlichte die Live-Mitschnitte bei seinem eigenen Label "Soli Deo Gloria". Die Erfahrungen, Erkenntnisse und Forschungsresultate dieser einzigartigen Wallfahrt flossen in Gardiners vielbeachtete Bach-Biografie "Music in the Castle of Heaven – Musik für die Himmelsburg" ein. 2014 brachte Gardiner das Buch zu seinem Amtsantritt als Präsident des Leipziger Bach-Archivs heraus, 2019 übergab er die Leitung der Stiftung an Ton Koopman.
Hören Sie hier die neue BR-KLASSIK-Hörbiografie zu Johann Sebastian Bach.
John Eliot Gardiner 2017 mit Monteverdi bei den Salzburger Festspielen. | Bildquelle: © Salzburger Festspiele / Silvia Lelli Vor Bach stand für Gardiner aber erstmal die Renaissancemusik auf der Agenda. Zuhause in der Familie wurde Schütz gesungen – und Claudio Monteverdi. Nach dem Opern-Pionier sind seine beiden frühen Ensembles benannt, der Monteverdi Choir und das Monteverdi Orchestra, aus dem später die English Baroque Soloists hervorgingen. Im Gegensatz zum Vorgänger-Kollektiv spielen die seither nämlich auf historischen Instrumenten. Gardiner hatte erkannt, dass er auf der Suche nach Authentizität mit dem modernen Instrumentarium an einen toten Punkt gekommen war. Bis heute haben seine halbszenischen Aufführungen und maßstabsetzenden Einspielungen von Monteverdis Opern-Trilogie und der nicht weniger epochalen "Marienvesper" Kultstatus.
Gardiners Musikdenken ruht auf drei Säulen: Singen, Sprechen und Tanzen. Gesungen hat er früher selbst, Chöre geleitet sowieso. Dass Musik eine eigene Sprache ist, deren Rhetorik man lernen und verstehen muss, hat schon Nikolaus Harnoncourt in seinem legendären Buch "Musik als Klangrede" gefordert. Und gerade wenn man Barockmusik wie Händel oder Rameau mit ihren mannigfaltigen Tanzgesten adäquat aufführen will, sollte man das historische Schrittmaterial kennen, findet Gardiner.
Neben Monteverdi fasziniert Gardiner seit jeher die Welt des Klangpioniers Hector Berlioz, der mit seiner hypertrophen, maßlosen Musik alle bis dato gültigen Konventionen über den Haufen warf. Die völlig neuartige Instrumentation, die ungewöhnlichen Klangfarben-Mixturen, die kühne Harmonik und die Einbeziehung der räumlichen Komponente in seine Musik verlangte nach neuen Ausdrucksmitteln, die sich Gardiner 1989 mit der Gründung des größer besetzten Orchestre Révolutionnaire et Romantique verschaffte.
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Berlioz: Symphonie fantastique finale | ORR and John Eliot Gardiner
Mit diesem Originalklang-Orchester, das den revolutionären Elan schon im Namen trägt, hat er einen bedeutenden Beethoven-Zyklus eingespielt. Live kann das Publikum der Salzburger Festspiele Ende August Gardiners historisch aufgerauhten Berlioz-Sound erleben, wenn er mit dem Orchestre Révolutionnaire et Romantique, dem Monteverdi Choir und einer großen Solistenschar die monumentale Antiken-Tragödie "Les Troyens" konzertant auf die Bühne des Großen Festspielhauses wuchtet.
Musik hat für mich eine erlösende Kraft.
John Eliot Gardiner | Bildquelle: picture alliance / dpa | Rene Fluger 80 Jahre und kein bisschen leise – auf den runden Geburtstag angesprochen, hat Gardiner gegenüber BR-KLASSIK mit britischer Distinktion geantwortet und eine Art Credo formuliert: "Natürlich werde ich ein bisschen meditieren, auf die letzten fünfzig Jahre zurückblicken. Und wenn ich das so sagen darf: Musik hat für mich eine erlösende Kraft, die uns miteinander und mit der Welt, in der wir leben, versöhnt. Sie ist unser Glück, unser Privileg und – als ausübende Musiker – unsere Verpflichtung. Wir geben das musikalische Erbe der Vergangenheit an ein Publikum der heutigen Generation weiter. Und es ist unsere Aufgabe, der Resonanz nachzuspüren, die die Musik, die wir aufführen, bei den Zuhörern hat oder haben kann – und welche Resonanz sie heute findet, was die Jahre überdauert, was gar ewig Gültigkeit zu besitzen scheint oder auch was einem Publikum ganz unerwartet, mit ungeahnter Kraft widerfährt. Denn Werke, die manchmal unbeachtet und unaufgeführt in Bibliotheksregalen verstauben, können plötzlich eine erstaunliche Aktualität und Dringlichkeit entfalten.“
Kommentare (2)
Donnerstag, 20.April, 14:54 Uhr
Alberta Weißmann
Unübertroffen
Was für ein Glück, daß dieser große Künstler mit 80 Jahren noch so fit ist und uns mit seinem Können weiter begeistert. Dirigenten wie ihn, gibt es kaum mehr und wird es wohl auch nicht mehr geben.
Donnerstag, 20.April, 13:55 Uhr
Beate Schwärzler
Sir John Eliot Gardiner zum 80.
Möge dieser große Herr und Gentleman noch viele, viele Jahre wirken
für die klassische Musik (und für die biologische Landwirtschaft) und,
zu gegebener Zeit, den Stab dann weitergeben.
S e i n Leben, - ist der Nachahmung wert.