Anfang der 1920-er Jahre fällt dem Regisseur Hans Karl Breslauer ein Roman in die Finger: Eine Stadt ohne Juden. Völlig überzeichnet, die Figuren, die Geschichte. Breslauer macht einen 80-minütigen Spielfilm daraus. Bereits bei den ersten Vorstellungen im Kino stören Nationalisten lautstark. Dann verschwindet der Film mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten. Weil der Stummfilm aus vielen Gründen sehenswert und vor allem hörenswert ist, haben die Salzburger Festspiele ihn aufs Programm gesetzt.
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Wie vertreibt man die Juden aus einem Land? Ein österreichischer Stummfilm aus dem Jahr 1924 spielt das Szenario auf der Leinwand durch: "Eine Stadt ohne Juden". Der Film galt lange als verschollen, tauchte dann wie aus dem Nichts 2015 auf einem Pariser Flohmarkt auf. Und die Komponistin Olga Neuwirth hat drei Jahre später zu diesem alten, schnurrenden Film Musik komponiert.
Handlungsort ist Wien in den 1920-er Jahre, allerdings heißt die Stadt dann Utopia. Und die soll judenfrei werden, weil die Juden für Armut, Unheil und für Arbeitslosigkeit verantwortlich sind. Die Lösung ist so simpel wie wirkungsvoll: Die Juden müssen einfach nur verschwinden und alles wird wieder gut. An der Spitze der antisemitischen Bewegung steht Bundeskanzler Dr. Schwerdtfeger.
Herzzerreißende Abschiedsszenen am Bahnhof, schwarz-weiß Bilder von Menschen, die in überfüllte Züge steigen, erwecken unangenehme, beklemmende Gefühle: Wir kennen die Geschichte, wir wissen, was nur wenige Jahre später tatsächlich begann. "Ein Roman von übermorgen" heißt zu allem hin auch noch die literarische Vorlage im Untertitel! Für Olga Neuwirth steht neben dem Staunen über die Visionen des Schriftsteller Hugo Bettauer aber noch etwas anderes im Raum, das sie in Tönen ausdrückt: Eine Koexistenz von Gut und Böse in jedem Menschen und die arbeitet auf ganz verschiedenen Ebenen.
Jeder in uns hat, glaube ich, die Kapazität von Gewalt und Hass in sich und gleichzeitig: gegen Gewalt und Hass zu sein.
Aufs Handeln kommt es an, nicht nur im Film. Hans Moser, der legendäre Wiener Grantler, der im realen Leben mit einer Jüdin verheiratet ist, gibt auf der Leinwand einen Antisemiten. Andere Schauspieler, die orthodoxe Juden spielen, werden später zu strammen Nazis. Und die Musik von Olga Neuwirth, die zeigt diese Zerrissenheit, bezieht den Verlauf der Geschichte auf subtile Weise ein.
Der Stummfilm aus dem Jahr 1924 mit live gespielter Musik von Olga Neuwirth. Am 27. Und 28. Juli im Szene Salzburg, dem alten Stadtkino. Mit dem Ensemble Phace und dem Dirigenten Nacho de Paz. Beginn: 18:00 Uhr
Das ist keine typische Filmmusik, die die Gefühle, die Stress, Chaos oder Verfolgungsjagden akustisch für die Leinwand illustriert. Diese Musik peitscht einem um die Ohren, schlägt in die Magengrube, lässt das Trommelfell flirren und bohrt sich in die Psyche. Festspielchef Markus Hinterhäuser hat zum 100-jährigen Jubiläum des Films entschieden, ihn zwei Mal zu zeigen mit der live gespielten Musik von Olga Neuwirth.
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Im Film geht die Geschichte nicht ganz so schlecht aus: Dr. Schwerdtfeger erkennt seinen Fehler. Nach einem anfänglichen wirtschaftlichen Aufschwung, tritt nämlich der kulturelle Verfall ein. Die Kaffeehäuser bleiben leer und Wien alias Utopia versumpft zum Kuhdorf. "Eine Stadt ohne Juden" war eine Schnapsidee. Als Zuschauerin hingegen sieht man den Film anders: Es ist eine visuelle Reise aus unserer Gegenwart in die Vergangenheit und mit dem Wissen, dass ein Aspekt der Handlung zur Realität werden wird. Die abgründige, finstere, manchmal auch ironische Musik von Olga Neuwirth gibt dem historischen Dokument zusätzlich eine nachdenklich stimmende und berührende Ebene.
Sendung: "Leporello" am 26. Juli 2024 ab 16:05 Uhr auf BR-KLASSIK