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Simon Rattle dirigiert das BRSO "Bruckners Neunte ist ein Hilfeschrei"

Das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks bringt mit Chefdirigent Sir Simon Rattle am 14. und 15. November in der Isarphilharmonie ein ebenso umfangreiches wie facettenreiches Programm zur Aufführung. Bruckners Symphonie Nr. 9 werden Kompositionen von Ligeti, Wagner und Webern gegenübergestellt. Das Konzert am Freitag, 15. November, überträgt BR-KLASSIK auch live im Videostream.

Sir Simon Rattle | Bildquelle: Astrid Ackermann

Bildquelle: Astrid Ackermann

BR-KLASSIK: Simon Rattle, von Richard Wagner gibt es eine Schrift mit dem Titel "Zukunftsmusik". Er hat das Wort populär gemacht. Aber gilt der Begriff "Zukunftsmusik" nicht eigentlich für alle vier Komponisten des Konzertprogramms: György Ligeti, Anton Webern, Richard Wagner und Anton Bruckner?

Simon Rattle: Ja, es gilt für alle vier. Wir vergessen manchmal, wie vergleichsweise früh im 19. Jahrhundert Richard Wagner seine Werke komponiert hat. Und Bruckner hat seine 9. Symphonie in den 1890er Jahren geschrieben hat, nur vierzehn Jahre bevor Anton Webern seine "Sechs Stücke für Orchester" komponiert hat. Das ist doch erstaunlich! Ligetis "Atmosphères" schließlich ist ein Meisterwerk, denn niemand zuvor hat ein Orchester so klingen lassen. Eine überirdische Musik, und das sage ich nicht nur, weil Stanley Kubrick sie in seinem Film "2001 – Odyssee im Weltraum" verwendet hat.

Bei Musik habe ich oft eine Geschichte im Kopf.
Sir Simon Rattle

BR-KLASSIK: Daraus sind fantastische Filmsequenzen entstanden. Ligeti selber hat ja bei Musik immer optische Visionen gehabt. Haben Sie auch Bilder im Kopf beim Dirigieren?

Simon Rattle: Das kann vorkommen. Ich habe oft eine Geschichte im Kopf. Ligeti besteht aus Sound-Clustern, als würde das Universum gerade während des Stücks entstehen.

Simon Rattle kombiniert Ligeti und Webern mit Wagner

BR-KLASSIK: Auf Ligetis "Atmosphères" folgt im Konzert das Vorspiel zu Wagners "Lohengrin"…

Sir Simon Rattle Dirigent | Bildquelle: © Oliver Helbig Lauter "Zukunftsmusik": Simon Rattle dirigiert das BRSO mit Musik von Wagner, Ligeti, Webern und Bruckner. | Bildquelle: © Oliver Helbig Simon Rattle: Im "Lohengrin" geht es um die Ankunft des Heiligen Grals. Wie aus den Tiefen des Alls. Aus der Stille erhebt sich der erste A-Dur-Akkord. Ich habe das Gefühl, die beiden Stücke wurden erschaffen, um zusammen gespielt zu werden. Ich sollte Copyright-Gebühren an meinen geschätzten Kollegen Christoph von Dohnányi überweisen, der auf diese Idee kam. Ich finde, Wagners Musik ist noch berührender, wenn man vorher "Atmosphères" gehört hat. Weberns "Sechs Stücke für Orchester" gehen wiederum nahtlos über in Wagners Vorspiel zu "Tristan und Isolde". Es gibt keine Pause zwischen den beiden Stücken. Aber darauf habe ich mein eigenes Copyright. (lacht) So macht die Stille zu Beginn das "Tristan" total Sinn, denn wir hatten vorher bei Webern so viele kleine Pausen und suchende Phrasen. Es ist der gleiche Ausdruck bei Webern, aber in Miniatur, in wenigen Noten. Wenn man beide Stücke zusammenbringt, hört man sie anders.

BR-KLASSIK: Also kann Zukunftsmusik auch rückwirkend die Vergangenheit verändern. Wir hören heute als neue Menschen die Musik von damals. Würden Sie sagen, dass diese Musik einen neuen Sinn bekommen hat?

Simon Rattle: Ich denke, es ist nur wichtig, was Musik mit unserer Seele macht. Musik sollte sprechen, die Werke sollten miteinander kommunizieren. Vor ein paar Jahren habe ich eine fantastische Rembrandt-Ausstellung gesehen, und neben jedem Rembrandt hing ein modernes Gemälde. Davon haben beide Werke profitiert, das alte und das neue.

Mit Wagner-Klängen im Cabrio durch Los Angeles

BR-KLASSIK: Oder nehmen wir das Kino: Stanley Kubrick hat Ligeti-Klänge im Film "2001" verwendet und Wagner hat die Filmmusik vorweggenommen.

Simon Rattle: Wagner hätte das Kino geliebt, den Surround-Sound! Ich hatte mal ein außergewöhnliches Erlebnis mit Wagner und dem Künstler David Hockney. Er hat in Los Angeles Leute auf eine "Wagner-Fahrt" mitgenommen. Schwer vorstellbar, oder? Aber außerhalb von Los Angeles gibt es diese tolle hügelige Landschaft. Und er hatte eine selbst zusammengestellte Kassette. An dem Punkt, an dem die Musik plötzlich düster wurde, fuhr man in den Schatten. Wenn die Musik dann aufblühte, hatte man eine wunderbare Aussicht. David sagte: "Ich wollte Leute an die Orte bringen, die so aussehen, wie die Musik klingt." Wagner hätte das geliebt, glaube ich, diese Fahrt in Hockneys Cabrio mit zwei kleinen Hunden auf der Rückbank. Da haben zwei Künstler quasi miteinander kommuniziert, am unwahrscheinlichsten Ort dafür: auf dem Los Angeles Freeway.

Wagner hätte das Kino geliebt.
Simon Rattle

BR-KLASSIK: Zwei Künstler, die virtuelle Realitäten schaffen, indem sie Künste kombinieren.

Simon Rattle: So ist es.

Die berauschende Wirkung des "Tristan"

BR-KLASSIK: Der Dichter Charles Baudelaire sagte mal, dass "Lohengrins" Musik für ihn ist wie ein Opium-Trip. Sie würde ihn süchtig machen. Können Sie das nachvollziehen?

Sir Simon Rattle | Bildquelle: picture-alliance/dpa Richard Wagners "Tristan" ist für Simon Rattle der Beginn der modernen Musik. | Bildquelle: picture-alliance/dpa Simon Rattle: Für mich wäre "Tristan" die Droge, auch wenn das Vorspiel zu "Lohengrin" natürlich außergewöhnlich ist. Es ist ein Wunder! Aber Leute im 19. Jahrhundert waren wirklich besorgt wegen dieser berauschenden Wirkung des "Tristan". Und das verstehe ich. Als ich drei Monate lang eine "Tristan"-Produktion geleitet habe, dachte ich bei mir: "Wenn ich das noch drei weitere Monate mache, ist der Wahnsinn nicht mehr weit…". Es gibt etwas Gefährliches in dieser Musik. Und es ist der Beginn der Moderne. Webern könnte ohne "Tristan" nicht existieren. Die meisten Harmonien aus Bruckners 9. Symphonie auch nicht.

200 Jahre Anton Bruckner

Zum 200. Geburtstag des revolutionären Romantikers pflegt der aktuelle Chefdirigent Sir Simon Rattle die Bruckner-Tradition weiter und dirigiert mit der Symphonie Nr. 9 Bruckners letztes Werk, seine "Unvollendete", einen monumentalen Torso und Kernbestandteil des spätromantischen Repertoires. Der Komponist wurde am 4. September 1824 in Österreich geboren.

BR-KLASSIK: Anton Bruckners 9. Symphonie ist ja nach einer psychischen Krise entstanden…

Simon Rattle: Bruckners 9. Symphonie klingt so dissonant und neurotisch, weil er zu dieser Zeit schon einen ernsten mentalen Zusammenbruch hatte. Leute erzählten, sie hätten ihn dabei gesehen, wie er die Blätter an einem Baum zählt. Und wenn er glaubte, eines übersehen zu haben, schüttelte er den Kopf und begann wieder von vorn. Wenn das nicht eine Definition von Besessenheit ist, weiß ich auch nicht. Seine Musik ist es jedenfalls definitiv: obsessiv.

Bruckners 9. Symphonie ist auch ein Hilfeschrei.
Simon Rattle

BR-KLASSIK: Bruckner war außerdem sehr religiös und autoritätsgläubig. Alles ist durch zwei, vier und acht teilbar, ordentlich nach Formenlehre gebaut, und doch sprengt diese Musik alle Kategorien. Sie ist voller Brüche, sie wirkt bedrohlich. Komponiert Bruckner psychologische Zusammenbrüche oder ist eher für Sie eher ein Baumeister?

Simon Rattle: Natürlich ist Bruckner ein erstaunlicher Konstrukteur. Er hat eine großartige Logik in seinen Werken. Aber diese Symphonie ist auch ein Hilfeschrei. Es könnte auch ein Schrei zu einem Gott sein, von dem Bruckner sich nicht mehr sicher ist, ob er überhaupt noch da ist. Ich weiß es nicht. Wenn man die komplette Symphonie spielt, schließlich gibt es ja im unvollendeten Finalsatz noch mehr als 600 Takte von Bruckner, dann sieht man, dass er auf eine Erlösung hinarbeitet. Im 3. Satz "Adagio" hört man zehn von zwölf Halbtönen gleichzeitig. Ein Schrei wie im Bild von Edvard Munch. Das Ende ist voller Zitate. Man hört das "Miserere"-Motiv aus seiner Messe Nr. 1, man erkennt etwas aus der Siebten und Achten Symphonie wieder. Das wirkt wie eine Opfergabe an etwas. Als wollte er sagen: "Vergib mir". Diese Symphonie ist ein unglaubliches Dokument. Und sehr verstörend.

BRSO live im Videostream und im Radio

György Ligeti: Atmosphères
Richard Wagner: Vorspiel zu "Lohengrin"
Anton Webern: Sechs Stücke, op. 6 (Fassung von 1928)
Richard Wagner: Vorspiel und Liebestod aus "Tristan und Isolde"
Anton Bruckner: Symphonie Nr. 9 d-Moll

Sir Simon Rattle, Dirigent
Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks

BR-KLASSIK überträgt das Konzert am Freitag, den 15. November ab 20.03 Uhr live im Radio und im Videostream.

Bereits am 14. November findet ein Konzert in der Münchner Isarphilharmonie statt. Informationen zu den Konzerten finden Sie auch auf der Website des BRSO.

Sendung: "Leporello" am 15. November 2024 ab 16:05 Uhr auf BR-KLASSIK

Kommentare (2)

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Sonntag, 17.November, 12:09 Uhr

winbeck gerhilde

simon rattle

Samstag, 16.November, 10:27 Uhr

Axel Peppermüller

Simon Rattle

Gern gebe ich zu das ich kein Rattle Fan bin, schon seit seiner Zeit in Berlin nicht!
Ich will hier nur eine Frage stellen, die ich mir schon gestellt habe als er noch Chef in Berlin
War!
Warum spricht der Maestro nur in englischer Sprache zu uns?
Es ist schon merkwürdig das keiner ihn das mal fragt, denn wenn ich in London arbeiten
würde könnte ich nicht nur Deutsch sprechen.
Warum also könnte er nicht bei seiner Gage einen Deutsch Coach leisten.

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