Ein bedeutender und nobler Kopf einer sehr wilden Musik-Szene: der Berliner Pianist Alexander von Schlippenbach, geboren 1938 und seit sechs Jahrzehnten berühmt. Tilman Urbach hat ihn in dem Film "Tastenarbeiter" porträtiert, der beim Jazzfest Berlin Premiere hat und jetzt in die Kinos kommt.
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Alexander von Schlippenbach spielt seit den 1960er Jahren eine sehr wichtige Rolle im europäischen Jazz. Er beschreibt sich selbst – mit unsichtbarem Augenzwinkern – wie folgt: "'N bisschen so 'n Spinner, vielleicht auch. Ich will jetzt nicht sagen, was ich für 'n toller Kerl bin. Spinner heißt, etwas abwegige Gedanken und in meinen Reaktionen nicht immer so ganz comme il faut."
'N bisschen so 'n Spinner
Comme il faut: So spielte er vor allem nicht – mit Anfängen in einer Zeit, in der das "Comme il faut"-Spielen, also Musik machen nach althergebrachter, bewährter Art sowieso völlig out war. Alexander von Schlippenbach: Free-Jazz-Pianist, Leader einer Langzeit-Band namens "Globe Unity Orchestra", prägende Figur einer Musik, die wie kaum eine andere den Drang nach Freiheit ausdrückte. Schlippenbach ist auch Abkömmling eines deutschen Adelsgeschlechts, das besonders Dichter und Militärs hervorgebracht hat – und seit dem 20. Jahrhundert auch Musiker –, aber er sagt auch: "Ich hab' den Grafen vollkommen gestrichen."
Alexander von Schlippenbach im Film "Tastenarbeiter" | Bildquelle: Salzgeber Der Filmemacher Tilman Urbach hat den 1938 in Berlin geborenen Musiker Alexander von Schlippenbach jetzt ausführlich porträtiert: "Tastenarbeiter – Alexander von Schlippenbach" heißt sein Film. Er kommt dem bescheiden und bedacht mit ansprechend angerauter Stimme über sich sprechenden Musiker sehr nah: auf dem Balkon in Berlin-Moabit, den Vögeln lauschend, in der Küche beim Gemüseschnippeln, im eigenen Wohnzimmer beim Klavierspielen und an verschiedenen Orten bei Proben. Er beobachtet ihn, wie er mit einem Messer Bleistifte anspitzt, um besser Noten schreiben zu können, und begleitet ihn, als er mit dem Zug zu berühmten Kollegen in andere Städte fährt.
Alexander von Schlippenbach mit Ehefrau Aki Takase | Bildquelle: Salzgeber Alexander von Schlippenbach: Das ist ein großes Kapitel deutscher Musikgeschichte nach 1960. Ein Kosmos frei bewegter Töne und derer, die sie hervorbringen – mit einem Pianisten und Komponisten, der Energien und Formen bündelt. Das reicht von den Aufbruchszeiten mit Weggefährten wie Saxophonist Peter Brötzmann bis hin zu jüngeren Musik-Momenten - mit seiner Frau, der Pianistin Aki Takase, und seinem Sohn Vincent, der sich DJ Illvibe nennt. Eine persönliche Geschichte, die auch in Bayern spielte, wo Schlippenbach als Flüchtling seine Jugend verbrachte. Tilman Urbach folgt vielen historischen Spuren – aber vornehmlich im Gespräch. Über das politisch brisante Jahr 1968 sagt Schlippenbach: "Ich bin auch – muss ich gestehen – niemals auf Demonstrationen gewesen. Ich war nicht so wahnsinnig interessiert. Ich weiß, das darf man ja eigentlich gar nicht sagen. Aber wir waren so stark mit der Musik beschäftigt, dass das nicht unbedingt eine Rolle spielte."
Es gibt dokumentarische Einblendungen: der leblose Körper des Studenten Benno Ohnesorg, Schwarzweiß-Aufnahmen von frühen Konzerten – doch viel mehr wird in diesem Film über Geschichte und Musik geredet, als dass sie sinnlich und bewegt vor Ohren und Augen geführt werden. Noch dazu hört man immer wieder in Interviews die schneidend scharf aufgenommene Stimme des fragenden Reporters – was sehr die Konzentration auf die Antworten stört. Dieser Musikfilm ist mehr ein Sprechen-über-die-Musik-Film. Nicht sehr häufig nutzt er die Chance, im Atem der Musik die Zuschauenden zu binden, eine weit größere Rolle spielt der Atem des Worts – selbst wenn dazu Schlippenbach und andere immer wieder Schwarzweißfotos durchblättern und auf diese Art ein Weg gefunden wird, dazu Bilder zu zeigen. Nicht ganz nachvollziehbar ist, weshalb der in Bayern lebende Filmemacher eine wichtige Initialzündung aus Schlippenbachs Kindheit im Film nicht verfolgt: Alexander von Schlippenbach erlebte in jungen Jahren den aufmüpfigen bayerischen Gstanzl-Sänger Roider Jackl – was sein Interesse an Musik, und vielleicht auch an ihrer nicht stromlinienförmigen Variante, besonders beflügelte. Immerhin aber zeigt der Pianist das Akkordeon des eigenen Vaters, der einst in Bayern auf Hochzeiten und Geburtstagen spielte.
Alexander von Schlippenbach, Szene aus dem Film "Tastenarbeiter" | Bildquelle: Salzgeber Der Film "Tastenarbeiter" vergibt einige Chancen, sein musikalisches Thema über die Kenner-Gemeinde hinaus reizvoll zu machen. Für alle, die sich mit europäischem Avantgarde-Jazz aber schon auskennen, ist er eine ergiebige Quelle. Etwa kann man darin dem bedeutenden, im September 2023 verstorbenen, Produzenten Jost Gebers, der einst mit Musikern zusammen das sehr wichtige Free-Jazz-Label FMP gründete, in einigen Szenen begegnen: Das Filmteam besuchte Gebers in seinem Privat-Archiv – einen Zeitzeugen (und einstigen Szene-Motor).
Die stärksten Momente in diesem Film: die Intimität einiger Gespräche, die Wohnzimmer-Atmosphäre, die Begegnung Schlippenbachs mit dem einstigen DDR-Kollegen und Schlagzeuger Günter Baby Sommer. Hier und in einigen gemeinsamen Tönen mit Trompeter Manfred Schoof beginnt sie zu funkeln, die musikalische Faszination einer Musik, die manchmal voll mitreißend-rauer Poesie steckt. Da berührt es: das Erleben eines sehr noblen Vertreters des Genres – Alexander von Schlippenbach.
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TASTENARBEITER - ALEXANDER VON SCHLIPPENBACH Trailer Deutsch | German [HD]
Weltpremiere
Sonntag, 5. November 2023, 11 Uhr
Berlin, Delphi Filmpalast
"Tastenarbeiter – Alexander von Schlippenbach"
Ein Film von Tilman Urbach
Film & Gespräch
Kinostart ist dann am Donnerstag, 9. November 2023.
Sendung: "Piazza" am 4. November 2023 ab 8:05 Uhr auf BR-KLASSIK
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