Die in Südkorea geborene Komponistin Unsuk Chin ist seit Jahrzehnten international erfolgreich. Am Samstag wird sie mit dem renommierten Ernst von Siemens Musikpreis ausgezeichnet. Wie sich ihr Vorname in ihrer Kunst spiegelt – und wie sie es schafft, ihre Träume in Klangräume zu verwandeln, das erfahren Sie im BR-KLASSIK-Porträt.
Bildquelle: dpa-Bildfunk/Rui Camilo
Ernst von Siemens Musikstiftung
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"Von meiner Kindheit an hatte ich sehr oft sehr lebendige Träume, mit viel Licht und Farbe, vom Weltraum, Kosmos oder von explodierenden Sternen – also meine Nächte waren immer sehr unruhig", sagt Komponistin Unsuk Chin. Doch wie klingen Träume eigentlich? Die Südkoreanerin gibt uns seit Jahrzehnten Anregungen. Dabei will sie vor allem dem Gefühl in dieser magischen Fantasielandschaft eine Stimme geben.
Es ist ein Gefühl, das man nur schwer in Worte fassen kann – wir kennen das alle, wenn wir aufwachen und uns versuchen, an einen Traum zu erinnern. Die Musik von Unsuk Chin macht es hörbar: da entsteht oft ein schwindelerregender Sog, da huschen klirrende Kaskaden quer durch Partitur und Raum, da stoßen Instrumente andere an und schnell weiß man nicht mehr genau, welcher Ton von wem stammt, wann er zum Klang wird und wohin er weiterzieht. Ein schillernder Farbenreichtum, der schon da ist, bevor es losgeht.
Von meiner Kindheit an hatte ich sehr oft sehr lebendige Träume.
"Erstens habe ich meistens ein vages Bild von dem Stück, als eine Farbe oder als eine Vision", sagt die 62-Jährige. Wenn sich diese Vision dann in eine Partitur verwandelt, ist man sofort gebannt von der Klarheit und Reinheit, die selten ist. Auch bei riesigem Orchester hört man alles. Trotz massiver Farbpallette scheinen die einzelnen Tupfer und Spritzer wie silbriger Wasserdampf im Raum zu perlen – und es ist ein schöner Zufall, dass sich das bereits im Namen der Komponistin verbirgt: "Mein Vorname Unsuk heißt sowas wie reines Silber. ,Un‘ ist Silber und ,Suk‘ ist klar bzw. rein."
Bildquelle: © EvS Musikstiftung | Fotos: Rui Camilo Bevor das Surreale zur Triebfeder im Schaffen von Unsuk Chin wird, zeigt es sich aber zunächst ganz lebensnah: Nach dem Studium in ihrer Heimatstadt Seoul kommt die angehende Komponistin dank eines Stipendiums Mitte der 1980er Jahre nach Hamburg. Für sie ist die Stadt grau, verschlafen, unfreundlich, fremd. Als dann auch noch ihr Lehrer György Ligeti nichts mit ihrem postseriellen Stil anfangen kann, fällt sie in eine Krise, die drei Jahren andauert und zu einem wunderbar paradoxen Fazit führt: "Ich habe sehr viel Einfluss von Ligeti bekommen, aber gleichzeitig kann ich sagen, dass ich keinen Einfluss von Ligeti bekommen habe, denn er kannte die alten Meister gut, analysierte Scarlatti und Chopin. Ich kannte das auch, denn ich spiele seit meinem vierten Lebensjahr Klavier", sagt sie. Selbst wenn sie nicht bei György Ligeti studiert hätte, so wäre ihr Kompositionsstil heute nicht viel anders, schätzt Unsuk Chin.
Unsuk Chin wird mit Ernst von Siemens Musikpreis augezeichnet.
Chin zieht nach Berlin, wo sie heute noch lebt. Und überwindet ihr Tief, macht mit "Akrostichon-Wortspiel" Anfang der 1990er international auf sich aufmerksam. Ein Stück für Sopran und Orchester, in dem sie Texte dekonstruiert und auf ihre phonetische Wirkung hin zerlegt. Es sind Texte, in denen magische Märchen- und Traumlandschaften umrissen werden.
Inspiration findet die südkoreanische Komponistin unter anderem bei Lewis Caroll, einem "Godfather" des surrealistischen Wortspiels und der bildflutenden Fantasie. 2007 schreibt sie für die Münchner Opernfestspiele "Alice in Wonderland" – trotz Anerkennung für ihre fantastischen Klangverästelungen, bleibt ein Raunen über den heiligen Baustellen der Zeitgenössischen Musik: Stilpluralismus und Anflüge zur Tonalität.
Bildquelle: © EvS Musikstiftung | Fotos: Rui Camilo Ihr Verhältnis zu Deutschland ist eher kühl – lange Zeit kaum vorhanden, wie sie selbst sagt: "In Deutschland gibt es eine Tendenz. Man erwartet: Sie ist Komponistin, sie kommt aus Korea, also muss sie so und so sein, muss so und so schreiben. Wenn man aber nicht so ist, dann wird auch kein Interesse gezeigt", beschreibt Unsuk Chin ihre Erfahrungen. Sie habe das jahrelang erlebt. Trotzdem finde sie es nicht allzu problematisch. Wenn man internationale Aufträge und Residenzen bekommt, so wie es bei Unsuk Chin mittlerweile der Fall ist, sagt sich das vermutlich etwas leichter. Die Komponistin ist viel zwischen Los Angeles, Asien und Lucerne unterwegs. Für das dortige Festival schreibt sie 2014 der Sängerin und Dirigentin Barbara Hannigan ein virtuoses Stück: "La silence de sirènes", übersetzt "Das Schweigen der Sirenen". Es ist inspiriert von Schriftstellerin wie Franz Kafka, James Joyce und Homer: "Ich habe da versucht, so einen Sogeffekt oder psychedelische Klangeffekte zu erzeugen. Am Ende weiß man nicht, singt da wer oder ist es das Orchester? Ich wollte ein Täuschungsmanöver inszenieren."
Es entsteht eine Musik, zu der das Publikum leicht Zugang findet, die aber gleichzeitig komplex und herausfordernd bleibt.
Jetzt wird Unsuk Chin mit dem Internationalen Ernst von Siemens Musikpreis ausgezeichnet. Chin habe der zeitgenössischen Musik neue Wege aufgezeigt und ein breites Publikum begeistert, teilte die Ernst von Siemens Musikstiftung mit. Die Stiftung lobte Chins Vielfältigkeit. Ihre Werke zeichneten sich durch luzide, traumhafte Klänge und humoristische Leichtigkeit aus. Die 62-jährige Musikerin wird die mit 250.000 Euro dotierte Ehrung am 18. Mai in München erhalten.
Die Verleihung des Ernst von Siemens Musikpreises und der Förderpreise Komposition findet am 18. Mai 2024 im Herkulessaal der Münchner Residenz statt. Die Laudatio auf Unsuk Chin hält Louwrens Langevoort, Intendant der Kölner Philharmonie. Das Ensemble intercontemporain spielt unter der Leitung seines neuen musikalischen Direktors Pierre Bleuse Werke der Preisträgerin.
Ernst von Siemens Musikpreis auf BR-KLASSIK:
Sendung "Horizonte" am 18. Juni 2024 ab 22:05 Uhr und am 20. Juni 2024 ab 22:05 Uhr.
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