Mit der Matthäus- und der Johannespassion hat Johann Sebastian Bach zwei Meisterwerke der Musikgeschichte geschaffen. Der Barock-Spezialist Ton Koopmann führt am Karfreitag in der Münchner Isarphilharmonie die kürzere von beiden auf, die Johannespassion. Aber warum hat Bach überhaupt zwei Passionen vertont? Und was unterscheidet sie?
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BR-KLASSIK: 1723 ist Johann Sebastian Bach Thomaskantor in Leipzig geworden, ein Jahr später hat er seine Johannespassion geschrieben und in der Nikolaikirche zum ersten Mal aufgeführt. Wir genießen die großen Passionen von Bach heute als Konzertereignisse mit besonderer Aura. Herr Koopman, welche Bedeutung und welche Funktion hatte diese Musik für die Menschen zu Bachs Zeit eigentlich?
Ton Koopman: Sie war natürlich ein großes Event. Am Karfreitag gab es nichts zu arbeiten, alles war zu und es fand nur ein Großgottesdienst statt, vier Stunden lang in der Thomaskirche oder in der Nikolaikirche. Und jeder, der Musik liebte, ging dort hin. Es gab zwar auch eine große Predigt, aber es war schon eine Sache, dass man eine so lange Passion aufgeführt hat. Und die Johannespassion ist ja noch etwas kürzer als die Matthäuspassion. Der Tag war Gott geweiht und es war der Tag, an dem nur die Passion erklang und an dem man die Bibel las.
Bachs Johannes- und Matthäuspassion erzählen beide vom Leiden und Sterben Christi, aber auf unterschiedliche Art und Weise. | Bildquelle: Gemeinfrei BR-KLASSIK: Wir kennen von Bach zwei große vollendete Passionen, die nach dem Johannes- und die nach dem Matthäusevangelium. Beide erzählen vom Leiden und Sterben Christi. Die Matthäuspassion ist drei Jahre nach der Johannespassion uraufgeführt worden. Warum erzählt uns Bach die Leidensgeschichte gleich zweimal?
Ton Koopman: Weil es ihn natürlich auch nicht gereizt hat, jedes Jahr die gleiche Passion aufzuführen. Bach hat viele Kantaten geschrieben und nicht jeden Sonntag die gleiche aufgeführt. Er hatte mindestens drei Kantaten, aus denen er auswählen konnte. Ich glaube, er hatte Abwechslung gern.
BR-KLASSIK: Die Johannespassion, Sie haben es schon erwähnt, ist ein bisschen kürzer, sie wirkt vielleicht auch geschlossener. Was gibt es an Unterschieden zwischen den beiden Passionen?
Ton Koopman: Ich finde, die Johannespassion ist viel aggressiver als die Matthäuspassion. Sie hat weniger Arien und da gibt es im Gegensatz in der Matthäuspassion natürlich fantastische Stücke: "Aus Liebe" zum Beispiel. Im Allgemeinen ist die Johannespassion für einen Chor schwer zu singen und der Text ist, finde ich, doch direkter. Es hat in Leipzig sogar einmal ein Problem gegeben. Bach bekam die Nachricht von einem der Priester: "Du musst den Text ändern." Wir wissen nicht, was er zu ändern hatte, aber Bach hat wie immer gesagt: "Ich habe keine Lust dazu." Eine Passion aufzuführen, das ist viel, viel Arbeit, man verdient nichts und es ist eine richtige Last.
BR-KLASSIK: Seine Kantaten schließt Bach immer mit einem Choral ab, der die Brücke zur Gemeinde schlägt. Welche Rolle spielen die Choräle in den Passionen?
Ton Koopman: An sich ist es immer das Volk, was da singt. Aber es ist kurios, die Johannespassion endet nach dem Schlusschor noch mit einem Schlusschoral, dem längsten Choral, den Bach geschrieben hat. Und dann geht der Gottesdienst weiter. Die Musik von Bach, die Harmonisierung, manchmal von gleichen Chorälen, ist immer wieder neu und erfrischend und erweitert mit wunderschönen Harmonien. Wir denken immer, dass Bach bei den Arien und den Chören der große Meister ist, was er natürlich auch war, aber die Choräle, die Harmonisierung davon und die Rezitative, das sind eigentlich auch Meisterwerke.
Wenn man so eine Passion aufführt, wenn man ihr zuhört, wenn man live dabei ist, das ist eine große Erfahrung.
BR-KLASSIK: Dann haben Sie vielleicht meine nächste Frage schon fast beantwortet. Die Musiken sind 300 Jahre alt, was packt Sie an ihnen ganz besonders?
Ton Koopman: Bach ist der größte Komponist der ganzen Musikgeschichte. Er ist imstande, über Traurigkeit oder über Bosheit zu schreiben ... all diese Emotionen sind einfach da: Liebe, Verzweiflung. Bach ist ein so menschlicher Komponist und er bringt uns die menschlichen Emotionen so nahe, dass auch, wer nicht glaubt, unter seinen Einfluss gerät. Wenn man so eine Passion aufführt, wenn man sie singt, wenn man ihr zuhört, wenn man live dabei ist: Das ist eine große Erfahrung.
BR-KLASSIK: Wer vom Leiden und Sterben Christi erzählt, erzählt auch vom Schmerz. Der Theologe und Arzt Albert Schweitzer, der sich intensiv mit Bach auseinandergesetzt hat, hat mal geschrieben: Bachs Musik sei nicht nur Freude und Schmerz, sondern verklärter Schmerz und verklärte Freude. Bach redet zu uns als einer, der nicht im Leben, sondern über dem Leben steht. Können Sie damit was anfangen? Hat Albert Schweitzer recht?
Ton Koopman: Ich verstehe, was er meint. Aber zu Zeiten von Albert Schweitzer war Bach natürlich der fünfte Evangelist. Und ich persönlich denke nicht an Bach als fünften Evangelisten. Bach war ein gläubiger Mensch, wie alle Menschen damals gläubig waren. Er ging regelmäßig zum Abendmahl, er hat mit seiner Familie in der Bibel gelesen, das war alles sehr wichtig für ihn, aber es war nicht übertrieben. Man liest manchmal, auch bei Schweitzer, dass Bach eigentlich nur Musik für die Kirche schreiben konnte, und es wäre traurig, dass er auch außerhalb, also weltliche Musik, geschrieben hat. Ich gehe nicht so weit wie Schweitzer, aber ich habe Achtung vor seinen Beobachtungen.
Sendung: "Allegro" am 05. April 2023 ab 06:05 Uhr auf BR-KLASSIK
Kommentare (1)
Sonntag, 09.April, 11:24 Uhr
Gina
Bach-Passionen
Die Musik von Bach's Passionen "erdet" und gleichzeitig ist man mit ihr dem Himmel ein Stück näher.