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NEUE JAZZ-ALBEN, VORGESTELLT IM GESPRÄCH - Vol. 38 Hören wir Gutes und reden darüber!

Beate Sampson, Roland Spiegel und Ulrich Habersetzer überraschen sich und Sie mit aktuellen Jazzalben. Dieses Format wurde mit dem Deutschen Radiopreis 2022 als "Beste Sendung" ausgezeichnet. Hier ist die 38. Ausgabe von "Hören wir Gutes und reden darüber".

Cover - Walter Smith III: Three of us are from Houston and Reuben is not | Bildquelle: Blue Note Records

Bildquelle: Blue Note Records

"Hören wir Gutes und reden darüber, Vol. 38".
In dieser Sendung des ARD Radiofestival Jazz haben sich Beate Sampson, Roland Spiegel und Ulrich Habersetzer zum achtunddreißigsten Mal gegenseitig mit Alben überrascht: Niemand wusste vorher, was die jeweils anderen mitbringen würden. Über folgende drei Alben wurde in der Sendung gesprochen.

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Walter Smith III: "Three of us are from Houston and Reuben is not" (Blue Note)

Er ist der angesagte Tenorsaxophonist des aktuellen Jazz und er hat einen besonderen Sinn für griffige Töne und ansprechende Titel gleichermaßen. Kein Wunder, sein Name selbst ist schon ein phonetisches Kunstwerk: Walter Smith III (The Third). Das sind ausgesprochen immerhin drei "TH" hintereinander. Das aktuelle Album dieses amerikanischen Ausnahmesaxophonisten, Jahrgang 1980, trägt den Titel "Three of us are from Houston and Reuben is not". Sehr viel Information steckt schon in diesem Titel, denn sowohl Walter Smith III, als auch Pianist Jason Moran und Schlagzeuger Eric Harland kommen aus dem texanischen Houston. Kontrabassist Reuben Rogers ist auf der Karibik-Insel Saint Thomas geboren. Diese vier Jazzer gehören zu den prägenden Instrumentalisten der internationalen Szene und sind für sich schon eine Sensation. Spielen sie die sehr unterschiedlichen und äußerst stimmungsvollen Kompositionen, werden sie zu einer von Innen heraus glühenden Einheit. Mal ergreifend samtig und mal packend kernig klingt der Tenorsaxophonton des Bandleaders, seine drei Mitmusiker gestalten Smiths Kompositonen schillernd und kraftvoll um diesen markanten Ton herum. Stücke wie "Office Party Music" oder "Misantrope’s hymne" sind leise Meisterwerke, "24" oder "A brief madness" sind kurze brodelnde Tonstatements. "Three of us are form Houston and Reuben is not" von Walter Smith III ist nicht nur von der Namensgebung her originell, das Album ist ein klanglicher und improvisatorischer Genuss! 

Michael Mayo: "FLY" (Artistry Music)

Cover - Michael Mayo: Fly | Bildquelle: Artistry Music Bildquelle: Artistry Music Seine Musik ist wie eine Energie-Infusion. Grundton: optimistisch. Haltung: reflektiert. So ist das bei Sänger und Komponist Michael Mayo. Der 1993 geborene Amerikaner hat seinem zweiten Album den Titel "Fly" gegeben und begibt sich mit fünf eigenen Stücken und sechs Standards in die höheren Regionen des genialischen Vokaljazz, den man auch - aber anders - etwa von Bobby McFerrin und Jacob Collier kennt. Er interpretiert solche Jazzklassiker wie "Just Friends" oder "It could happen to you" mit ihren erstaunlich gegenwartstauglichen Originaltexten, gießt Leuchtturm-Stücke der Jazzgeschichte wie etwa Wayne Shorters "Speak no Evil" oder Miles Davis' "Four" in elektrisierende Arrangements, bei denen seine Stimme zum Instrument wird, und kombiniert in seinen eigenen Songs nachdenklich poetische Lyrics mit einem lebensbejahenden, melodie- und harmoniesatten Jazz, den er soulig und popmusikalisch unterfüttert. Für den immensen Groove-Faktor und das immerwährende Sprudeln inspirierter Tonkaskaden sorgen der Pianist Shai Maestro, die Bassistin Linda May Han Oh und der Schlagzeuger Nate Smith. Ein besonderes, beseeltes Leuchten geht von ihrem Spiel aus, von dem ich annehme, dass es auch einen positiven Effekt auf das vegetative Nervensystem der Zuhörenden haben könnte. Mit diesem Traum-Team hat Michael Mayo das Album an zwei Tagen in Brooklyn eingespielt, dazu noch eines seiner vielstimmigen Solo-Stücke und sehr wahrscheinlich auch noch einige Extra-Chorpassagen produziert. Unter anderem beim Titelstück "Fly", für das er seine Eltern Valerie Pinkston und Scott Mayo noch mit an Bord genommen hat, die beide zu den angesagtesten Background-Sänger*innen der U.S.A gehören. Seit er das Glück hatte, ihnen als Kind backstage bei der Arbeit zuhören zu können, war für Michael Mayo klar, dass auch er Sänger werden würde. Und das ist jetzt auch ein Glück für uns!

Alice Zawadzki / Fred Thomas / Misha Mullove-Abbado: "Za Górami" (ECM)

Cover - Alice Zawadzki, Fred Thomas, Misha Mullov-Abbado: Za Górami | Bildquelle: ECM Records Bildquelle: ECM Records Eine ganz eigene Farbe als Trio hat dieses Ensemble gefunden. Es sind die Sängerin und Geigerin Alice Zawadzki, der Bassist Misha Mullov-Abbado und der Pianist und Multi-Instrumentalist Fred Thomas. In London sind sie alle geboren (zwei im Jahr 1985, einer 1991), doch ihre Wurzeln liegen in unterschiedlichsten Ländern - von England und Wales bis Italien, Polen und Russland. Die Sängerin etwa ist Tochter eines englisch-polnischen Paars, der Bassist ist Sohn der berühmten klassischen Geigerin Victoria Mullova und des Dirigenten Claudio Abbado, der Pianist stammt aus einer britischen Musiker-Familie aus der Klassik-Szene. Auf diesem Album hört man Musik, die über die Genres hinweg ein stilvolles Eigenleben entfaltet: Feiner, elegischer Gesang, ein Klavier, das mit zartestem "Touch" arbeitet (das Wort "Anschlag" passt dazu definitiv nicht) und ein Bass, der mit viel Fingerspitzengefühl Räume öffnet. Bei einigen der Stücke kommt man schon bei der Sprache ins Rätseln, denn es sind traditionelle Lieder in der Sprache der sephardischen Juden, Ladino. Hinzu kommen noch etwa das polnische Titelstück "Za Górami" (wörtlich übersetzt "Hinter den Bergen", doch die Worte stehen für "Es war einmal") und die spanischsprachige lyrische Perle "Tonada de luna llena" (Lied vom Vollmond) des venezolanischen Sängers und Komponisten Simón Díaz. Der Pianist Fred Thomas hat zudem einen Text von "Ulysses"-Autor James Joyce vertont ("Gentle Lady") - in einer Musik, die Worte wie auf Blättern voller Tautropfen trägt und sie sanft hin- und herwiegt. Ein Muster an klischeefreier Schönheit und hauchfeiner musikalischer Kommunikation sind die Aufnahmen dieses Trios, das viel von der samtweich-klaren Stimme Alice Zawadzkis lebt und dennoch ein Dreieck gleichbedeutender Partner ist. Fred Thomas bedient sich in manchen Stücken auch eines in der modernen Improvisationsmusik seltenen Instruments: einer Fiedel; in seinem Fall ist das ein fünfsaitiges Streichinstrument, das zwischen den Knien gespielt wird und mit zugleich harschen und ätherischen Klängen sofort in eine imaginäre Vergangenheit entführt. Reizvoll ist es, bei dieser Musik Stück für Stück in die Tiefe der eigenen Assoziationen hinein zu lauschen. Ein schillernder Zusatz-Reiz entsteht dadurch, dass man ab und zu rätseln kann, welches der beiden Streichinstrumente, Fred Thomas' Fiedel oder Alice Zawadskis Geige, gerade zu hören ist: Denn die Sängerin ist in der Lage, gleichzeitig zum Singen auch die Violine zu spielen. Man kann staunen, Entdeckungen machen und sich an der respektvollen musikalischen Aneignung der Musik unterschiedlichster Kulturen erfreuen. Ein Musik-Erlebnis von nachhaltiger Schönheit. 

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