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Pièce électronique No. 3 György Ligeti scheitert an der Elektronik

Den Haag, 2. Februar 1996: György Ligetis "Pièce électronique No. 3" wird uraufgeführt – ein Stück, das es eigentlich gar nicht gibt. Denn Ligeti hatte in den 1950er-Jahren die Arbeit daran entnervt aufgegeben. Doch ohne dieses Scheitern wäre sein berühmtestes Werk "Atmosphères" vielleicht nie entstanden.

Komponist György Ligeti | Bildquelle: H.J. Kropp

Bildquelle: H.J. Kropp

Zahlen, Striche, kryptische Kürzel. Elf Seiten Millimeterpapier mit Koordinatensystemen aus Frequenzen und Zeiten, voll von waagrechter Linien, akribisch mit dem Lineal gezogen, manchmal nur fünf, manchmal fast 50 eng untereinander. Ein abstrakter Bauplan für abstrakte Musik.

Ein Werk ganz aus Sinustönen

Es war Ende der 1950er-Jahre, als György Ligeti im WDR-Studio für Elektronische Musik an einem neuen Stück tüftelte, einem Stück ganz aus Sinustönen. Erst wenige Monate zuvor war er als Flüchtling aus Ungarn gekommen, hungrig auf Freiheit, hungrig auf nie gehörte Klänge. Und nun saß er in Köln, im Mekka der Elektronischen Musik, hatte seinen schön ausgedachten Plan vor sich – und kämpfte mit Tonbandschnipseln: "Ich wollte 48 Klangschichten übereinander kopieren. Wir hatten im Studio tief im Keller drei Tonbandgeräte. Ich musste jeweils zwei Tonbänder gleichzeitig starten, um sie exakt auf das dritte Band zu kopieren. Doch die Geräte reagierten natürlich immer mit ein wenig Verzögerung, mal schneller, mal langsamer."

Unendliche Möglichkeiten – unendlich mühsam

In der Theorie versprach die Elektronische Musik unendliche Möglichkeiten – in der Praxis erwies sie sich als unendlich mühsam. Am Ende, 1958, gab György Ligeti auf. Immerhin zwei elektronische Werke hatte er bis dahin fertiggestellt, "Glissandi" und "Artikulation". Seine "Pièce électronique No 3" mit ihren 48 Schichten aber blieb unvollendet.

Erst 1996 beugen sich zwei junge Elektronik-Freaks, Kees Tazelaar and Johan van Kreij, wieder über Ligetis Skizzen und versuchen, die Ideen von damals mit den technischen Mitteln von heute zum Klingen zu bringen. Sie entziffern die Diagramme und Linien, ergänzen, was der Komponist offen ließ. Beim Ligeti-Festival des Könglichen Konservatoriums Den Haag erblickt das Phantom-Stück das Licht der Welt. Es surrt und sirrt, es brummt und piept. Und nach zwei Minuten ist der Spuk vorbei.

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Piece electronique No. 3 | Bildquelle: György Ligeti - Topic (via YouTube)

Piece electronique No. 3

Geburtsstunde des wahren Ligeti

Kein Wunder, dass Ligeti nie wieder zur Elektronik zurückgekehrt ist. Aber zwei Dinge hat er aus dem WDR-Kellerstudio doch mitgenommen: die Idee, Dutzende von Klangschichten übereinander zu lagern; und den Titel, den er seinem elektronischen Stück ursprünglich geben wollte, "Atmosphères". Wenig später schrieb er diesen Titel wieder über eine Partitur. Doch diesmal schichtete er nicht piepsige Sinustöne übereinander, sondern die Klangfarben eines ganzen Orchesters. "Atmosphères" machte den Komponisten weltberühmt. Die Todesstunde seines Elektro-Experiments war zur Geburtsstunde des wahren Ligeti geworden.

Was heute geschah

Unsere Reihe "Was heute geschah" zu bemerkenswerten Ereignissen der Musikgeschichte können Sie auch um 7:40 Uhr, um 12:30 Uhr und um 16:40 Uhr auf BR-KLASSIK im Radio hören. Weitere Folgen zum Nachhören finden Sie hier.

Sendung: "Allegro" am 2. Februar 2024 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK

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