Er war einer der ganz Großen – nicht nur der Alten Musik. Mit seinem Ensemble, dem Concentus musicus Wien, gehörte er seit den 1950-er Jahren zu den Pionieren der Historischen Aufführungspraxis. Doch später reichte sein Repertoire von Bach bis Gershwin. Am 6. Dezember 2019 wäre Nikolaus Harnoncourt 90 geworden. Was ist von ihm geblieben? Thorsten Preuß zieht ein persönliches Resümee.
Bildquelle: Werner Kmetitsch
Erst wurde er angefeindet – dann angebetet. Jahrzehntelang galt Harnoncourt als Originalklang-Outlaw – bis ihn die Feuilletons zum Heiligen Nikolaus der Alten Musik machten. Zum Guru wider Willen, dessen Worte ehrfürchtig zitiert, dessen Interpretationen stürmisch umjubelt wurden. Auch wenn er offenkundig irrte. Zum Beispiel, als er Mozarts letzte drei Sinfonien aus einem Bauchgefühl heraus zum Instrumental-Oratorium erklärte. Oder als er es in seinen späten Beethoven-Aufnahmen mit den Manierismen übertrieb.
Diese Werke sind nicht dazu da, um im Lift gespielt zu werden oder zwischendurch in einem Restaurant. Sie haben eine essenzielle Bedeutung für unser Leben.
Ganz ehrlich: mit Harnoncourt-Hagiographie habe ich nichts am Hut. Ich bin zum Beispiel mit seinen Bach-Kantaten aufgewachsen. Aber wenn ich heute am CD-Regal vorbeigehe, denke ich mir oft: Das spielen heutige Originalklang-Ensembles doch viel schöner, flüssiger, technisch ausgefeilter. Aber dann greife ich doch wieder zu einer seiner Bach-CDs mit dem Concentus musicus. Und ja, da knurrt es und knarrt und kracht. Aber: da ist eben auch nichts glattgebügelt. Man spürt den Widerstand, aber erst recht die Hingabe. Da glüht ein Feuer, da weht ein frischer Geist, da waltet ein existentieller Ernst.
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Johan Sebastian Bach: Christmas Oratorio BWV 248 (Cantatas 1-3) - Nikolaus Harnoncourt (HD 1080p)
Ich gestehe: Harnoncourts Bach packt mich noch immer. Auch sein Monteverdi, wo die Unterwelt wirklich nach Gänsehaut klingt. Und auch seine schroffen, hintergründigen Mozart-Aufnahmen mit dem Concertgebouw-Orchester – obwohl ich Harnoncourts Hinwendung zu den modernen Orchestern immer als freundliche pädagogische Geste, aber klanglich doch als Kompromiss betrachtet habe. Und wie dankbar bin ich, dass Harnoncourt den Mut hatte, das Finale aus Bruckners Neunte mit den Wiener Philharmonikern auf die einzig redliche Weise einzuspielen – nämlich als Fragment!
Als Ludwig Hartmann, der heutige Intendant der Tage Alter Musik Regensburg, 1970 als Chorknabe die Matthäus-Passion unter Harnoncourt miterlebt, ist er von der Art, wie Harnoncourt über Musik spricht, fasziniert. "Das war sicher auch eine Art Initialzündung", sagt Hartmann heute. Der Geiger und Dirigent Reinhard Goebel bezeichnet sich selbst als "süchtig" nach Harnoncourts Art, Musik zu spielen. Wie Hartmann oder Goebel, so hatten viele Protagonisten der Alte-Musik-Szene von heute einst ihr Aha-Erlebnis mit Harnoncourt. Keine Frage: den Siegeszug des historisch informierten Spiels verdanken wir ihm.
Ich bin der Meinung, dass die allerletzte ganz große Kunst immer rätselhaft ist und auch rätselhaft bleibt.
Beim Blättern in Harnoncourts Lebenserinnerungen wird mir wieder deutlich, gegen welche Widerstände er dieses Neue entwickeln musste. Und dann denke ich mir: Ja, er fehlt heute. Einer wie er, der die Routine, die sich im Alte-Musik-Betrieb eingeschlichen hat, wortmächtig in Frage stellt. Der Widerspruch einlegt. Dem es nicht, wie manchen unbekümmerten Originalklang-Stars von heute, um die virtuose Selbstverwirklichung geht. Sondern um nichts weniger als die Wahrheit.