Berlin, 7. November 1866. Der Komponist Paul Lincke wird geboren. Er war der Liebling aller Berliner im Kaiserreich, auch genannt: der Erfinder der "Berliner Operette". Als dann der Ruhm langsam verblasste und nichts Neues mehr von ihm kam, hat sich Lincke mit Märschen den Nationalsozialisten an die Brust geworfen.
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Während seine Geschwister fröhliche Kinderlieder singen, steht der kleine Paul zu preußischen Märschen stramm. Der aufputschende Rhythmus und das donnernde Blech gefallen ihm. Paul hat aber auch eine zarte Seite und stellt sich mit der Geige außergewöhnlich geschickt an. Er hätte das Zeug zum Virtuosen, tritt stattdessen lieber bei einem Stadtpfeifer in Würzburg in die Lehre. Drei Jahre lang saugt er das ausgesprochen vielseitige Repertoire auf, lernt Tenorhorn, Fagott, Schlagzeug und Klavier. Und er träumt von einer Karriere als Militärmusiker.
Das Maßband allerdings vermasselt ihm die Laufbahn. Paul Lincke hat kein "Gardemaß". Sein Brustumfang ist zu klein. Also sattelt er um, versinkt im Orchestergraben als Fagottist, so dass er zumindest Geld verdient. Innerlich lechzt er aber nach Ruhm und Rampenlicht, nimmt jede Chance wahr, sich weiterzubilden. Der Eifer zahlt sich aus. Paul Lincke kommt ins Apollotheater als Kapellmeister, mit der Verpflichtung zu komponieren. Zwei Jahre in Frankreich erweitern seinen musikalischen Horizont, er lernt die französische Operette lieben und denkt sich: sowas könnte den Berlinern doch auch gefallen. Mit dem Einakter "Frau Luna" feiert er sein Debüt und die Berliner Operette ist geboren. "Eine Premiere im Apollo Theater, das war zu jener Zeit das größte gesellschaftliche Ereignis. Es flimmerte nur so von Dekolletées, Brillanten und Uniformen!" So erinnert sich der Komponist.
Seine Melodien lassen sich hervorragend nachträllern, er versteigt sich nicht in einer komplizierten Sprache, sondern schaut dem Volk aufs Maul. Paul Lincke wird zum Star, produziert Operetten wie am Fließband, zweitweise kosten die billigsten Karten für seine Vorstellungen hundert Mark, ein halbes Vermögen! Und: All das steigt ihm zu Kopf. Er inszeniert sich wie ein Geck, trägt weiße Glacéhandschuhe, Zylinder, sein Schnurrbart sitzt wie gemalt.
Ich kam, trat ans Dirigentenpult und hob den Taktstock, Aaahs und ooohs, halb unterdrückte Ausrufe der Bewunderung gingen durch das Haus. Man applaudierte schon, bevor der erste Ton erklang!
Aber, wie das so ist, irgendwann quillen dem Publikum Hits wie "Bis früh um Fünfe, liebe Maus" zu den Ohren heraus. Die Gesellschaft entwickelt sich weiter, Lincke hängt dem Kaiserreich nach. Als die Nationalsozialisten die Macht übernehmen, wittert er eine neue Chance. Lincke fährt voll ab auf die Losung "Kraft durch Freude" und schreibt den Marsch "Unsere braunen Jungs". Auch bei Hitler biedert er sich mit einem "Führerlied" an, das nicht erhalten ist. Und selbst der knochentrockene Goebbels würdigt Paul Lincke mit einem Ehrentaktsock aus Elfenbein.
Ein Jahr nach Kriegsende stirbt Paul Lincke. Sein "Glühwürmchenidyll" hingegen schwirrt immer noch durch die Lüfte.
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Glühwürmchen-Idyll
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Sendung: "Allegro" am 7. November 2024 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK