Leningrad, 26. April 1936: Dimitri Schostakowitsch hat seine 4. Symphonie vollendet. Jetzt warten alle auf die Uraufführung. Die ersten Proben finden statt. Die Premiere allerdings nicht – zumindest vorerst nicht.
Bildquelle: imagao/ITAR_TASS
Das Kalenderblatt zum Anhören
Schostakowitsch ist 30 Jahre alt, berühmt und bewundert. Seine Kreativität ist auf einem Höhenflug, er ist DER Komponist der Zeit mit seiner avancierten und vitalen Musik, die beim Publikum ankommt. Allein die -zig Aufführungen seiner Oper "Lady Macbeth" sind jedes Mal ausverkauft.
Und er will weiter. Fieberhaft beginnt er mit der Arbeit an einer gigantischen Symphonie, sechs Flöten und Klarinetten sowie acht Hörner verlangt die Besetzung. Und nicht nur, dass schon die Exposition des ersten Satzes länger ist als sein gesamtes 7. Streichquartett – Schostakowitsch legt ein Kompendium all seiner Kunstgriffe vor, übermütig, exzentrisch, meisterhaft. Groteske Galoppe, Walzer und Polkas, Fugen, ein gewaltiger Trauermarsch.
Dann aber bricht das Schicksal über Schostakowitsch herein. Stalin hatte seine Oper "Lady Macbeth" gesehen und war explodiert vor Zorn, weil die Musik avanciert und "State of the Art" ist statt volkstümelnd pathetisch. In der "Prawda" erscheint eine vernichtende Kritik, die nichts anderes ist als die Drohung, dass es sehr schnell zu Ende sein könnte mit der Karriere, vielleicht sogar mit dem schönen Leben des Komponisten in der Stadt. Andere seien ja auch schon deportiert worden.
Schostakowitsch ist schockiert. Ungläubig. Die Proben zur Premiere laufen schon, die Leute fangen an zu tuscheln: Wie kann einer nach einer solchen Kritik eine so verteufelt schwere und formalistische Musik schreiben. Der Direktor der Philharmonie gibt Schostakowitsch schließlich einen freundschaftlichen Rat – und der nimmt die Symphonie aus dem Programm. Was ihm vermutlich das Leben rettet. 25 Jahre später erst wird die Uraufführung stattfinden, als Schostakowitsch längst ein gebrochener Mensch ist, aufgerieben in Stalins zynischem Spiel der Wechselbäder von Umarmungen und Drohungen.
YouTube-Vorschau - es werden keine Daten von YouTube geladen.
Shostakovich: Symphony No. 4 (Helsinki PO, Saraste)
Unsere Reihe "Was heute geschah" zu bemerkenswerten Ereignissen der Musikgeschichte können Sie auch um 7:40 Uhr, um 13:30 Uhr und um 16:40 Uhr auf BR-KLASSIK im Radio hören. Weitere Folgen zum Nachhören finden Sie hier.
Sendung: "Allegro" am 26. April 2022 ab 06:05 Uhr auf BR-KLASSIK