Bei der Uraufführung seiner Symphonie Nr. 4 in Meiningen stand Brahms selbst am Dirigentenpult - eine Seltenheit. In vielerlei Hinsicht ist diese Symphonie ein besonderes Werk: letztes Wort des Symphonikers Brahms, Schluss-und Höhepunkt einer Gattung, die ihn so viel Mühe, Kopfzerbrechen und Ringen mit den musikalischen Ausdrucksmitteln gekostet hat. Ein befremdliches Werk für die Zeitgenossen wegen der radikalen Kompositionsweise und gleichzeitig Ausgangspunkt für die nachfolgende Komponistengeneration. Florian Heurich hat mit der Dirigentin Simone Young über dieses Starke Stück gesprochen.
Bildquelle: Christiane Jacobsen (Hrsg.): "Johannes Brahms: Leben und Werk", Hamburg 1983
Das starke Stück zum Anhören
Die letzte Brahms’sche Symphonie – ja! Aber ist die Vierte tatsächlich auch ein Abschluss des symphonischen Schaffens? Eine Synthese des bisher Erreichten? Ein Alterswerk ist sie jedenfalls nicht. Immerhin bleiben Brahms nach der Uraufführung 1885 noch mehr als zehn Jahre zu leben. Da schreibt er jedoch vor allem Kammermusik. Als großes Orchesterwerk wird nur noch das Doppelkonzert folgen. Zu einer weiteren Symphonie ringt er sich nicht mehr durch. "Ich glaube, er hat sich zurecht gefunden mit der Form vom ersten und zweiten Satz einer Symphonie", sagt Simone Young. "Das ist in der Zweiten und Vierte Symphonie ziemlich ähnlich, und lediglich ein bisschen gekürzt in der Dritten."
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Entstanden ist die 4. Symphonie, wie so oft bei Brahms, in der Sommerfrische. Auf dem Land, in der Steiermark. Brahms zweifelt jedoch an seinem Werk. Es schmecke nach dem dortigen Klima, in dem noch nicht einmal die Kirschen süß und reif werden, berichtet er mehreren Freunden. Tatsächlich reagieren die Zuhörer zunächst mit einer Mischung aus Bewunderung und Befremden auf die kompromisslose Art dieses Werks.
Es gibt keine Einleitung, es geht einfach los mit dieser sehr nostalgischen Melodie.
"Der erste Satz mit seinem Anfang, diese erste Phrase, über die ganze Doktorarbeiten geschrieben wurden", sinniert Simone Young. "Nur die erste Phrase! Es ist keine Frage und Antwort, dieser Beginn. Es ist quasi Frage und noch eine Frage. Und eine Symphonie so zu beginnen, finde ich sehr modern für diese Zeit. Es gibt keine Einleitung, es geht einfach los mit dieser sehr nostalgischen und melancholischen Melodie. Die aber auch dann wiederum immer wieder einen Hauch von Licht, einen Hauch von Liebe hineinbringt."
Simone Young | Bildquelle: picture-alliance/dpa Auch der zweite Satz beginnt ungewöhnlich. Zuerst ein archaisch anmutendes Bläserthema, später dann eine warme, schier unendlich scheinende Kantilene der Celli. "Man lebt fast ein ganzes Leben durch diesen einen Satz", charakterisiert Simone Young das "Andante moderato". "Und es hört nie auf. Es gibt nie die gewohnten Pausen am Ende eines Teils, sondern es schreitet immer weiter. Und dieses Paradox: einerseits das unaufhaltsame Weiterschreiten, andererseits die langsamen Tempi. Ich finde, diese zwei Komponenten ziehen gegen- aber auch miteinander und schaffen dann eine Spannung vom ersten Ton bis zum letzten. Man ist als Interpret bei diesem Stück im Recht, wenn man am Schluss spürt, dass das Publikum die ganze Zeit kaum geatmet hat. Erst am Ende müssen sie alle Luft holen. Da ist solch eine Spannung drin und eine Tragkraft. Es ist, als spreche sich die menschliche Seele in dieser Musik aus."
Es folgt der größtmögliche Kontrast: ein lärmendes, fast burleskes "Allegro giocoso". Einwürfe von Piccoloflöte, Kontrafagott und Triangel geben dem Ganzen einen schon fast grotesk wirkenden Charakter. "Es ist eine gewollte Heiterkeit, die etwas Drohendes hat", findet Simone Young. "Fast ein Teufelstanz. Es ist wieder ein Paradox, nämlich zwischen einem äußerlich eher heiteren Satz und einem bedrohenden Inhalt. Daraus entstehen dann die Spannungen, die man dann als Interpret auskosten kann. Und gerade das macht das Stück so dankbar."
Mit der barocken Form einer Passacaglia und einem Bach zitierenden Thema greift Brahms im Finale seiner Vierten Symphonie einerseits auf frühere Epochen zurück, andererseits stößt er gerade mit diesem Schlusssatz das Tor auf für die musikalische Zukunft. "Die schönsten Stellen des Finales sind für mich diejenigen, wo diese sehr merkwürdigen Synkopen mitlaufen", sagt Simone Young dazu. "Die Akzente sind überall, nur nicht auf der Eins. Und diese Synkopen, diese Gegenharmonien und Gegenrhythmen bringen eine Modernität, die bis zu Bartók führt."
So stellen diese finalen Takte im symphonischen Werk von Brahms zwar durchaus eine Krönung seines Schaffens dar; eine große kompositorische und menschliche Reife spricht aus diesen Klängen. Hat Brahms damit aber tatsächlich einen Gipfel erreicht, nach dem es nichts Weiteres mehr zu sagen gibt? Zu welchem Ergebnis kommt Simone Young? "Wenn man die vierten Sätze der vier Symphonien von Brahms anschaut, wird man feststellen, wie arg verschieden die alle sind. Er spielte immer noch mit der Form des Finales. Und ich glaube nicht, dass er jemals sein letztes Wort gefunden hat."
Johannes Brahms:
Symphonie Nr. 4 e-Moll, op. 98
Philharmoniker Hamburg
Leitung: Simone Young
Label: Oehms Classics