Alte Klaviere sind Zeitmaschinen. Das behauptet jedenfalls der russische Pianist Alexander Melnikov. Auf seinem neuen Album "Fantasie" hat er sieben Fantasien für Klavier solo eingespielt, jede auf einem anderen historischen Flügel, jeweils passend zur Entstehungszeit. Von Johann Sebastian Bach über Mozart und Mendelssohn bis zum 1998 verstorbenen Komponisten Alfred Schnittke geht die Zeitreise, vom Cembalo bis zum modernen Steinway.
Bildquelle: harmonia mundi
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Mit Bach beginnt die Reise. Seine "Chromatische Fantasie und Fuge" ist der Ausgangspunkt für alle anderen Werke auf diesem tollen Konzeptalbum. Die Idee ist so einfach – und nicht nur klug, sondern auch unmittelbar sinnlich fürs Ohr. Sieben Komponisten, die alle einen Gedanken weiterführen. Sieben Instrumente, die uns mit ihrem individuellen Klang in die Entstehungszeit versetzen. Chronologisch angeordnet – wie ein Querschnitt durch die Musikgeschichte, wie eine Zeitreise. Den Weg zeigt eine Gattung, die immer ein wenig im Schatten stand: die Fantasie.
Die Fantasie ist eine freie Form, in der sich die Komponistinnen und Komponisten ganz unbefangen aussprechen können. Eine Fantasie ist nichts anderes als eine aufgeschriebene Improvisation. Man hält fest, was einem beim Spielen im Kontakt mit den Tasten spontan in den Sinn kommt. Damit ist die Fantasie der Gegenpol zur ehrwürdig-offiziellen Sonate. Selbst wenn beim Aufschreiben dann doch alles raffiniert ausgefeilt wird – klingen muss eine Fantasie immer überraschend, ein Stück weit unvorhersehbar, als würde die Musik in diesem Augenblick erst geboren werden, als würde sie genau jetzt unter den Fingern hervorquellen und dabei die Spielenden genauso überraschen wie die Hörenden.
Bachs Chromatische Fantasie und Fuge, der Ausgangspunkt der Reise, auf den sich alle anderen Stücke beziehen, ist ein epochales Werk. In einer Fantasie gibt es keine Regeln, keine vorgegebene Form. Alles kann passieren – und Bach verführt uns mit seiner entfesselten Fantasie in ein Labyrinth der Klänge, in eine harmonische Hexenküche. Alles gerät ins Rutschen, die Musik irrt durch die Tonarten, scheint förmlich den Boden unter den Füßen zu verlieren.
Alexander Melnikov | Bildquelle: Julien Mignot Auch die an die Fantasie anschließende Fuge ist voller orientierungslos durch den Tonraum gleitender Halbtöne. Kurz zuvor war Bachs erste Frau plötzlich verstorben – gut möglich, dass er sich mit dieser radikal subjektiven Musik seine Verzweiflung von der Seele geschrieben hat. "Der stylus phantasticus, der fantastische Stil, muss sich an nichts halten", heißt es in einem Traktat der Barockzeit. Alexander Melnikov spielt diese im doppelten Sinn fantastische Musik auf dem Nachbau eines Cembalos von 1720. Die Tonkaskaden rauschen in atemberaubendem Tempo vorüber – und doch bleibt auf diesem wunderbaren Instrument jeder einzelne Ton distinkt wahrnehmbar wie die funkelnden Tropfen eines Wasserfalls im Sonnenlicht.
Noch eigenartiger ist der Klang des sogenannten Tangentenflügels, auf dem Alexander Melnikov eine Fantasie des Bach-Sohns Carl Philipp Emanuel spielt. Bei diesem Instrument von 1790 werden die Saiten von einem kleinen Metallstift berührt. Die zwei verschiedenen Registerzüge erlauben reizvolle Dialoge. Immer weicher und voller wird der Klang in Mozarts zwei Fantasien in c-Moll und in d-Moll, die zur traurigsten und schönsten Musik gehören, die er geschrieben hat. Auch Mendelssohns fis-Moll-Fantasie, von Melnikov gespielt auf einem Fortepiano von 1828, ist unüberhörbar inspiriert vom alten Bach.
Über Chopin und Busoni geht die Zeitreise auf den immer moderneren Instrumenten bis zum deutsch-russischen Komponisten Alfred Schnittke – gespielt auf einem Steinway von 2014. Alte Instrumente, sagt Alexander Melnikov, funktionieren wie Zeitmaschinen. Und da alle Stücke einer ähnlichen Idee folgen, kann man sich nicht beim Hören nicht nur in die jeweilige Entstehungszeit versetzen lassen, sondern auch reizvolle Vergleiche anstellen. Ein inspirierendes Album.
Alexander Melnikov – "Fantasie"
Werke von Johann Sebastian Bach, Carl Philipp Emanuel Bach, Wolfgang Amadeus Mozart, Felix Mendelssohn Bartholdy, Fédéric Chopin, Feruccio Busoni und Alfred Schnittke
Alexander Melnikov (Tasteninstrumente)
Label: Harmonia Mundi
Sendung: "Piazza" am 12. August 2023 ab 8:05 Uhr auf BR-KLASSIK
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