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Der Saxophonist Charles Lloyd wird 85 Ein großer Erzähler

Einst gab er den Jazz auf, um zu meditieren. Da war Charles Lloyd Anfang 30. Doch dann kehrte er zurück und gehört seitdem zur Weltspitze des Jazz. Am 15. März wird der geniale Saxophonist und Flötist 85 Jahre alt.

Charles Lloyd  | Bildquelle: Jazz Archiv-Olaf Malzahn-dpa

Bildquelle: Jazz Archiv-Olaf Malzahn-dpa

Schier unglaublich, welche Tonschönheit und musikalische Neugier dieser Musiker auch im hohen Alter noch hat. Ein Festival vor wenigen Jahren im Sommer: Charles Lloyd, eine schlaksige Gestalt mit Strickmütze, Sonnenbrille und lockerer weiß-beiger Kleidung, steht auf der Bühne und bläst ungemein anmutige Melodiebögen in die Luft, verziert sie hier mit einem Lauf, dort mit kleinen, wirbelnden Figuren. Soli gestaltet er noch immer mit verblüffender Intensität und großem Atem – und wie selbstverständlich ohne Wackler. Wenn Charles Lloyd mit seinen hellen, klaren Saxophontönen den Himmel anjauchzt, sorgt er bei Zuhörenden immer noch für Staunen und für Glücksgefühle. Er spielt dabei mit Musikern zusammen, die seine Enkel sein könnten – und hier viel von ihrem eigenen Sound einbringen. Eine große, erfahrene Stimme im Austausch mit den nächsten Generationen.

Lloyd spielt sein Publikum in Trance

Charles Lloyds Kunst besteht vor allem darin, trancehafte Momente zu schaffen, in denen das Publikum alles andere vergisst. Die sehnsuchtsvolle Melodie des Folksongs "The Water Is Wide", seit langem eine Glanznummer von Lloyd und seinen Bands, lässt sich inniger, zarter und bewegender kaum spielen als in Lloyds besonnen-versunkenem Tenorsaxophonklang. Jazz-Balsam für die Zuhörerinnen und Zuhörer, die das Feine und den Sinn für Zwischentöne schätzen.

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Der Saxophonist Charles Lloyd beim Jazzfestival Ystad | Bildquelle: Roland Spiegel

Charles Lloyd Quartet - The Water is Wide - 2021

Mit über 80 ist der Saxophonist immer noch am Puls der Zeit

Charles Lloyd, geboren am 15. März 1938 in Memphis, Tennessee, ist ein Langzeit-Phänomen. Schon Ende der 1960er-Jahre hat er eine Mischung aus Jazz, Folk und Blues gespielt, die Tausende Fans erreichte, und fünfeinhalb Jahrzehnte später mischt er immer noch in der vordersten Reihe des internationalen Jazz mit. Für sein bisher letztes Album "Trios: Chapel" mit Gitarrist Bill Frisell und Bassist Thomas Morgan erhielt er überschwängliche Kritiken und nicht zuletzt den Jahrespreis der Deutschen Schallplattenkritik. Musiker wie Pianist Keith Jarrett und Schlagzeuger Jack DeJohnette sind durch ihn berühmt geworden – und ein sehr bekannter Europäer, der Pianist Michel Petrucciani brachte Lloyd in den frühen 1980er-Jahren dazu, nach langer Pause wieder Jazz-Bühnen zu betreten. Zu den heutigen Größen, die mit Lloyd spielten und spielen, gehören die Pianisten Brad Mehldau und Jason Moran, die Gitarristen Julian Lage und Martin Sewell, die Bassisten Reuben Rogers und Larry Grenadier, die Schlagzeuger Eric Harland und Gerald Cleaver – lauter um mehrere Generationen jüngere Musiker aus der allerersten Reihe.

Charles Lloyd auf BR-KLASSIK

In der Jazztime am 15. März, um 23:05 Uhr, auf BR-KLASSIK sendet Beate Sampson Glückwünsche an den Saxophonisten, Flötisten und Komponisten Charles Lloyd.

Sirus W. Pakzad gratuliert am Donnerstag, den 16. März, um 23:05 Uhr, auf BR-KLASSIK in All that Jazz.

Keith Jarrett startete seine Karriere in der Band von Lloyd

"I am a storyteller", sagt Lloyd – und beschreibt damit seine Musik so einfach wie präzise. Diese Musik hat Atem. Und sie wirkt wie Erzählungen in der Sprache von Klängen. Lloyds Musik springt die Hörer an – auf geschmeidige, sanfte Art. Das tut sie schon seit langem. Lloyds Platte "Forest Flower" von 1967, eine Live-Aufnahme vom kalifornischen Monterey Jazz Festival, war ein Millionenseller – im Jazz die absolute Ausnahme. Die damalige Aufnahme zeigt zudem, dass Lloyd schon immer einen besonderen Riecher für Mitmusiker hatte. Jene Besetzung, die auf "Forest Flower" zu hören ist, spricht Bände: Der ganz junge Keith Jarrett war hier am Klavier (21 Jahre alt), der fast ebenso junge Jack DeJohnette am Schlagzeug (24), und der damals 31-jährige Cecil McBee am Bass. Lloyd selbst war 28. Charles Lloyd sah damals aus wie die Rockmusiker jener Zeit: bauschend-gekräuselte schwarze Mähne, Kinnbart, stylische Brille. Ein Jazzer mit Flower-Power. Und was für ein Kunstgriff, das bei dem in Monterey mitgeschnittene Album "Forest Flower" zu nennen!

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CD-Cover Köln Concert Keith Jarrett | Bildquelle: ECM

Charles Lloyd-Keith Jarrett 1968

Lloyd spielt Musik für ein Publikum über die "Kenner" hinaus

Schon damals war Lloyds Musik ein Jazz, der anders war als jeder sonst. Es war nicht der übliche Mainstream-Sound. Und es war auch kein wilder, wirbelnder Free Jazz. Es war Musik, die leicht zugänglich war. Sie hatte lyrische Melodien. Und Harmonien, auf denen die Solisten wie auf ständig wiederkehrenden Wellen surfen konnten. Musik, für die man kein Jazzkenner sein musste. Ja, nicht einmal latenter Jazzfan. Denn diese Töne waren universell. Sie deuteten in eine Richtung, die der Trompeter Miles Davis und andere wenige Jahre später mit dem Rockjazz einschlugen – waren aber selbst noch kein Rockjazz, da E-Gitarre und E-Bass in dieser Klangmischung noch nicht mit von der Partie waren.

Die Gefühle und der Sound der Musik nehmen einen direkten Weg – diese Pfeile treffen dich direkt ins Herz
Charles Lloyd

Die "vierte Dimension"

Charles Lloyd | Bildquelle: picture-alliance/dpa Bildquelle: picture-alliance/dpa Was diese Töne aber in besonderer Intensität hatten, war eine spirituelle Dimension. Charles Lloyd war darin früh von der Musik des Saxophonisten John Coltrane (1927-1967) beeinflusst, der in seinen späten Jahren seinen Jazz stark spirituell ausgerichtet hatte. Spiritualität und möglichst inniger Gefühlsausdruck sind wesentliche Kennzeichen von Lloyds Spiel. Im Februar 2013 formulierte Lloyd in einem Interview mit dem Bayerischen Rundfunk sein musikalisches Credo so: "Die Gefühle und der Sound der Musik nehmen einen direkten Weg. Egal, von welchem Stamm du kommst – diese Pfeile treffen dich direkt ins Herz."  Mit Pfeilen hat es dieser Musiker, das weiß man. Ein sehr eindrucksvoller Dokumentarfilm über Charles Lloyd trägt den Titel "Arrows into Infinity", Pfeile, die in die Unendlichkeit geschossen werden. Das sagt viel aus über das, was Lloyd mit seiner Musik verbindet. Er nennt Klang auch die "vierte Dimension". Und eine Aussage von ihm lautet: "Wenn Du eine Musik hörst, bist du danach nicht mehr derselbe. Wir gehen irgendwo hin und kommen nicht als dieselben zurück."

Viel von Charles Lloyds musikalischer Haltung ist buddhistisch geprägt. Und in seinen Worten, etwa in Hommagen an berühmte Kollegen, spürt man das auch. Unlängst waren auf Lloyds Facebook-Seite folgende Worte über den am 2. März verstorbenen Saxophonisten Wayne Shorter zu lesen: "Frei fliegend und jetzt eins mit dem Universum". Und seinem indischen Musikerkollegen, dem Perkussionisten Zakir Hussain, gratulierte Lloyd unlängst so zum Geburtstag (Hussain wurde an einem 9. März geboren): "So viele Einmündungen und Flüsse sind wir zusammen geschwommen."

Michel Petrucciani holt Lloyd nach seiner Mediationspause zurück

Charles Lloyd selbst hat viele Einflüsse aufgesogen. In jungen Jahren spielte er viel Blues und Soul, unter anderem bei Gitarrist B. B. King und dem Sänger Bobby Blue Bland, später bei dem großen Meister souligen Grooves, Cannonball Adderley. Zugleich sammelte er Erfahrungen in einer eher kammermusikalischen Jazzrichtung, in der Band des Schlagzeugers Chico Hamilton. Daraufhin gründete er sein berühmtes Quartett mit Jarrett, DeJohnette und McBee. Auf dem Höhepunkt des Erfolges jedoch zog er sich aus der Jazzwelt zurück, um geistige Einkehr zu finden, spielte viele Jahre lang nur noch im Studio und auf Tourneen mit der Popgruppe The Beach Boys und widmete sich ansonsten der Transzendentalen Meditation. Seit er 1981 mit dem Pianisten Michel Petrucciani wieder in die Jazzwelt zurückkehrte, ist Lloyd ein Musiker geblieben, von dem stets besonders starke Konzerte und Aufnahmen zu erwarten sind. Schon damals, in der Band mit Michel Petrucciani unter anderem beim Jazzfest Berlin und seitdem in diversen Formationen auf vielen großen Bühnen des Jazz.

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Charles Lloyd & Jason Moran: NPR Music Tiny Desk Concert | Bildquelle: NPR Music (via YouTube)

Charles Lloyd & Jason Moran: NPR Music Tiny Desk Concert

Einige seiner besten Aufnahmen hat Lloyd beim Münchner Label ECM gemacht, darunter "Mirror" mit seinem New Quartet im Jahr 2010 und "Hagar’s Song" im Duo mit Pianist Jason Moran im Jahr 2013, gewidmet Lloyds Ur-Ur-Großmutter, die als 10-Jährige an einen Sklavenhalter in Tennessee verkauft worden war. Einen besonderen Stellenwert hat das Doppelalbum "Athens Concert", das ein Konzert von Charles Lloyds Band mit der griechischen Sängerin Maria Farantouri in Athen dokumentierte. Diese große Stimme der griechischen Musik, die bevorzugte Interpretin des Komponisten Mikis Theodorakis und während der Militärdiktatur 1967 bis 1974 auch die Stimme des Widerstands, gab im Juni 2010 mit der Band von Charles Lloyd ein Konzert in einem antiken Theater am Fuße der Akropolis: Und ihre Musik fand mit derjenigen Lloyds einen verblüffend stimmigen gemeinsamen Atem.

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Charles Lloyd | Bildquelle: picture-alliance/dpa

Charles Lloyd and Maria Farantouri - Athens Concert (Excerpt)

Aufrichtigkeit ist dem Jazzer wichtiger als Cleverness

Charles Lloyd: ein Musiker mit ganz weitem Horizont – und Tönen, die weit tragen. Über das Geheimnis dieser Töne sagte Lloyd 2013 im Interview mit BR-KLASSIK Folgendes, als Antwort auf die Frage, wie er vorgehe, wenn er Interpretationen erarbeitet: "Ich denke, was Sie Ausarbeiten nennen, ist mehr der Charakter, den man im Leben ausgeprägt hat. Was man auf den Tisch bringt, das gilt. Ein Essen ist viel besser, wenn man frische Zutaten aus dem Garten hat, aus der Küche der Sonne, statt gifthaltige aus einer Dose. Wir versuchen, ohne fossile Brennstoffe zu laufen, wir spielen einfach nur mit reinem Herzen. Den Klang von Musik trage ich seit meiner Kindheit mit mir, und dieser Klang wiederum trägt mich. Es ist einfach eine tiefe Verbundenheit. Mit Planen und Ausarbeiten hat das nichts zu tun, diese Musik ist nicht clever, sie ist einfach aufrichtig."

Charley Lloyd - "Sacred Thread"

Im November 2022 erschien das Album "Sacred Thread". Für Redaktionsleiterin Beate Sampson ein "Genuss, den diese beseelte Musik der gegenseitigen Annäherung und des verbindenden Trialogs bereitet, mit ihrer Harmonie und ihrer Klangschönheit."

Darüber, wie er es schafft, musikalisch am Puls der Zeit zu bleiben – mit jüngeren Musikern, die aus ganz anderen Klangwelten kommen als er – sagte Lloyd:  "Ich lerne immer. Ich halte meinen Geist offen – wie jemand, der am Anfang steht. Die jungen Musiker kommen aus ihrer Zeit zu dem Tanz, und auf ihrer Tanzkarte steht noch nicht so viel – das ist es, was ich mag. Und es fügt dem, was ich tue, etwas Neues hinzu. Mit dem, was sie hören und anhören, bringen sie etwas mit, das wiederum das inspiriert, was ich höre. Also lernen nicht nur sie, sondern auch ich. Das ist offen. Es ist eine Schule, die ihre Wurzeln ganz tief in der Vergangenheit hat und ihre Fühler in den Orbit ausstreckt." Die sehr bildhafte Sprache von einem, der jedoch mit seiner Musik solche Bilder auch einzulösen versteht. Seine Töne haben eine Kraft, über sich selbst hinauszuwachsen, wie nur die allerwenigsten: Jazz-Pfeile in die Ewigkeit.

Sendung: "Allegro" am 15. März ab 06:05 Uhr auf BR-KLASSIK

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