Wagners Zeitgenossen galt "Tristan und Isolde" als unspielbar. Die Bayreuther Festspiele 2024 eröffnen mit einer Neuproduktion dieser Oper. Dirigent Semyon Bychkov betont, auch heute sei das Stück eine Herausforderung für alle Beteiligten.
Bildquelle: Umberto Nicoletti
Semyon Bychkov dirigiert in Bayreuth
"Der Tristan-Akkord ist ein Gefängnis"
BR-KLASSIK: Herr Bychkov, viele Künstlerinnen und Künstler spüren sofort diesen Geist hier in Bayreuth, wenn sie einen Fuß ins Festspielhaus setzen. Oder auf den Grünen Hügel. Hatten Sie auch so einen spirituellen Moment?
Semyon Bychkov: Ich hatte viele solcher Momente. Als ich Anfang der 90er-Jahre meinen ersten "Parsifal" vorbereitete, da war das zwar nicht in Bayreuth, aber ich habe hier die Aufführungen von "Parsifal" und "Tristan" besucht. Ich erinnere mich, dass ich in der zweiten Reihe Mitte gesessen habe, was bedeutet, dass die Abdeckung des Orchestergrabens nur zwei Meter von mir entfernt war. Die Lichter gehen also aus und der Auftritt beginnt. Und bevor ich den ersten Ton von "Parsifal" höre, fühle ich mit meinen Füßen die Vibrationen vom Boden, die dann zum ersten Ton von "Parsifal" werden. Es war die Art von körperlichem Gefühl, das ich noch nie anderswo erlebt habe. Natürlich, als ich Jahre später, 2018, selbst hierher kam, um "Parsifal" zu dirigieren, war es wieder einmal eine dieser lebensverändernden Erfahrungen. Das Wissen des Ortes und der Musik darin, dass diese Oper speziell für Bayreuth komponiert wurde, für den Klang, die Ästhetik.
BR-KLASSIK: Ist das auch in diesem Jahr so mit "Tristan und Isolde"? Wenn Sie dann im Graben stehen und dieses großartige Vorspiel dirigieren, wie sehr überwältigt Sie das noch?
Semyon Bychkov: Diese Art von Musik nimmt dich mit, ob du es willst oder nicht. Ganz gleich, in welchem emotionalen oder körperlichen Zustand du dich befindest, was du auch immer eine Stunde zuvor oder in den letzten Monaten erlebt hast. Sobald die Musik beginnt, gibt es kein Entkommen mehr. Man will nicht mehr weg, man hat nur noch den Wunsch in der Musik zu bleiben. "Tristan" ist Kultur, weil nichts dergleichen existierte, bevor es komponiert wurde, und nichts dergleichen kam danach. Das beginnt schon mit der ersten Note. Und mit dem Tristan-Akkord, der uns in einen anderen Zustand versetzt, und ich denke, dass er für alle Musiker und alle, die ihn hören, dieselbe große Bedeutung hat.
BR-KLASSIK: Finden Sie "Sehnsuchtsakkord" auch eine richtige Beschreibung für den Tristan-Akkord?
Bildquelle: Marco Borggreve Semyon Bychkov: Diese Art Akkord gab es schon zuvor, aber es ist das erste Mal, dass er in den Mittelpunkt gestellt wurde, im Gegensatz zu etwas, das nur vorübergehend ist. Wie lässt sich dieser Akkord beschreiben? Der Tristan-Akkord ist ein Gefängnis. Ein Gefängnis, aus dem es kein Entrinnen gibt. Es ist ein Traum und es ist ein Begehren. Ein obsessiver Traum, der nicht erfüllt werden kann. Es ist ein Begehren, das den Traum zu einer Befreiung bringt. So würde ich den Tristan-Akkord beschreiben, da er sich auf die Geschichte von "Tristan und Isolde" bezieht, die in gewisser Weise eine der menschlichsten Geschichten ist, die es in Wagners Schaffen gibt. Wenn wir dem Schicksal der Charaktere folgen, diesen beiden Liebenden und natürlich auch König Marke, können wir sehen, dass es ein Gefängnis ist. Wir können sehen, dass es ein Traum ist. Der Traum, ihm zu entkommen. Das wird erst ganz zum Schluss wahr. Es kommt zu einer Befreiung. Das ist ein Kreislauf, der die Oper zu einem ganzheitlichen Erlebnis macht.
BR-KLASSIK: Jetzt brauchen wir all die Bücher nicht mehr, die geschrieben wurden zum Tristanakkord.
Semyon Bychkov: Die Menschen sind so berührt und fasziniert davon, weil es gleichzeitig originell ist, aber auch etwas, was schon lange existiert. Aber zum ersten Mal steht es im Zentrum und ist Gegenstand des Nachdenkens. Von dort aus beginnt jeder, Ideen zu haben – und die Ideen müssen zum Ausdruck gebracht werden.
BR-KLASSIK: Aber was ist es am Ende für Sie? Ist es eine erfüllte oder eine unerfüllte Liebe?
Semyon Bychkov: In gewisser Weise ist es beides. Aber letzten Endes kommt der Moment, in dem die beiden Seelen, nachdem sie einander gefunden haben, endlich gemeinsam frei sein können, was eine Art Entschluss ist. Der Preis ist hoch, den beide dafür zahlen müssen. Es ist ein Traum, der wahr wird. Wenn man sich den letzten Akkord von "Tristan" anhört, die Tonalität davon, den Geist dieses Akkords, hat man das Gefühl, dass es nichts Materielles mehr gibt. Es ist reiner Geist, und es sind zwei Geister, die vereint sind. Endlich, wo auch immer sie sich vereinen.
BR-KLASSIK: Ist es auch das, was Ihnen durch den Kopf geht, wenn Sie im Graben stehen und die Oper zu Ende ist, wenn Sie zu Ende dirigiert haben?
Semyon Bychkov: Mir geht das nicht durch den Kopf. Ich habe das Leben der Protagonisten gelebt, das Leben jedes einzelnen auf der Bühne vor mir. Ich muss fühlen, was sie fühlen. Ich muss leiden, was sie leiden. Ich muss genießen, was sie genießen, um ein unterstützender Freund zu sein und ihnen bei der Bewältigung dieser enormen Herausforderung helfen zu können. Und ich muss ihnen nahe sein, um zu erkennen, was jeder von ihnen durchmachen muss, um diese Charaktere zu erschaffen und sie auszudrücken. Dann kommt das Ende der Aufführung. Ich denke an nichts. Ich fühle nichts. Es ist eine Art außerkörperliche Erfahrung, bei der es nichts gibt außer Geist.
BR-KLASSIK: Diese Oper galt als unspielbar, und Richard Wagner hat das auch probiert in Wien. Es gab 70 Proben und dann wurde abgebrochen, weil es alles so überirdisch schwer war.
Bildquelle: Marco Borggreve Semyon Bychkov: Wenn die Tempi stimmen, ist es auf jeden Fall spielbar. Es ist auf jeden Fall singbar, wenn Sängerinnen und Sänger die nötigen Stimmen und Musikalität haben. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir noch heute vor dieser unglaublichen Herausforderung bei der Interpretation dieser Musik stehen. Ob Sänger, Instrumentalist, Dirigent – das macht eigentlich überhaupt keinen Unterschied. Wir leben jetzt anderthalb Jahrhunderte später. Man kann sich nur vorstellen, wie es für diejenigen war, die mit dieser Musik, mit diesem Werk, mit diesem Text zum ersten Mal in Berührung kamen. Zu einer Zeit, als es keine Erfahrung damit gab. Die Zeitgenossen mussten damit klarkommen. Wie sich das wohl anfühlt, nach 70 Proben abbrechen zu müssen! Mein ganzes Leben lang studiere ich diese Partitur, und jeden Tag finde ich etwas, das mir vorher nicht aufgefallen ist, aber es war schon immer da. Es geht um den Übergang, darum, wie man auf organische Weise von einem Teil zum anderen kommt. Das ist eine riesige Herausforderung.
Es gibt viele Hinweise in der Partitur, die einem einen Fahrplan geben und doch ist kein Komponist, nicht einmal Wagner, in der Lage, genau das zu notieren, was er in seinem Kopf hört, weil seine Notationsmittel begrenzt sind. Und dabei ist Wagner schon einer von denen, die das besser können als die meisten anderen, zum Beispiel in der Art und Weise, wie man den Rhythmus für Sänger in Verbindung mit dem Text notiert. Darüber schrieb er in seinem Brief an Liszt im Anschluss an die Premiere von "Lohengrin". Später schrieb Wagner einen Brief an Liszt, in dem er zu erklären versuchte, dass er Musik zu einem Text komponiere, den er selbst geschrieben hatte. Wir dürfen nicht vergessen, dass Wagner zuerst der Dichter und dann erst der Komponist war. Damit einher geht die rhythmische Seite der Musik. Man muss der Musik sehr genau folgen und dann findet man das richtige Tempo. Aus dem Text entwickelt sich schließlich der richtige Geist.
BR-KLASSIK überträgt die Eröffnungspremiere von "Tristan und Isolde" am 25. Juli ab 15:57 Uhr live in allen ARD-Kulturwellen und ab 16:00 Uhr im Video-Livestream. Eine TV-Aufzeichnung der Premiere ist am Samstag, 27. Juli, um 20:15 Uhr in 3sat zu sehen.
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