Dmitri Schostakowitsch war einerseits Vorzeigekünstler der Sowjetunion, auf der anderen Seite stand er ständig unter Beobachtung. Um diesem Spannungsfeld zu entkommen, legte sich der Komponist ein Hobby zu: Fußball.
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Musiker und Fußball
4.1) Schostakowitsch und sein Lieblingsclub
Wenn er im Fußballstadion seines Clubs Zenit Leningrad war, zählte für Dmitri Schostakowitsch nur eines: Das Runde musste ins Eckige, der Sieg musste her.
Wann immer es ging, war Schostakowitsch im Stadion. Er war kein Fußball-Fan, er war Fußball-Nerd. Akribisch schrieb er alles in sein Buch: die Ergebnisse, das Torverhältnis, die Namen der Torschützen. Er las Sportzeitungen, hörte Fußballreportagen im Radio, redete mit Sportjournalisten und Fußballern. Er verfasste selbst Fußballreportagen, die er Freunden vorlas oder als Briefe verschickte. Und Schostakowitsch machte den Schiedsrichter-Schein. Mehr ging nicht.
Als Schostakowitsch Ende der 1930er-Jahre die ersten Erfolge als Musiker hatte und Geld verdiente, konnte er es sich leisten, auch zu Auswärtsspielen von Zenit Leningrad zu fahren. Nach Moskau, Kyjiw und sogar nach Tiflis. Als seine Frau mal nicht da war, lud Schostakowitsch die Mannschaft von Zenit Leningrad zu sich nach Hause ein. Die Fußballer waren anfangs etwas befangen, doch dann setzte Schostakowitsch sich an den Flügel und lockerte die Stimmung mit seinem Klavierspiel auf.
Die Hörbiografie von Jörg Handstein widmet sich einem der wohl spannendsten Komponistenleben des 20. Jahrhunderts: Dmitri Schostakowitsch. Zu erleben sind Udo Wachtveitl als Erzähler und Ulrich Matthes als Schostakowitsch. Das Label BR-KLASSIK hat die Hörbiografie auf 4 CDs veröffentlicht. Mit dabei ist auch eine Aufnahme der 5. Symphonie von Schostakowitsch mit dem BRSO unter der Leitung von Mariss Jansons von 2014.
Zenit Leningrad war ein Malocherclub. 1925 wurde er in einer Stalin-Metallfabrik gegründet, die Spieler arbeiteten damals sogar noch in der Fabrik. Zuerst hießen sie Stalinez, also Anhänger Stalins, ab 1940 dann Zenit Leningrad. 1944 wurde die Mannschaft UdSSR-Pokalsieger. Ein besonderer Tag für jeden Zenit-Fan, denn zum ersten Mal holte ein Verein, der nicht aus Moskau kam, die Trophäe.
Fußball zur Zeit von Dikator Josef Stalin war nicht einfach nur ein Sport. Fußball sollte auch zeigen, dass der Kommunismus überlegen war. Politik auf dem Rasen sozusagen. Schostakowitsch bekam 1929 sogar den Auftrag, ein Fußballballett zu schreiben: "Das Goldene Zeitalter". Es handelt davon, wie eine sowjetische Fußballmannschaft eine westliche Stadt besucht, in der eine Industrieausstellung stattfindet. Die Fußballer des Sowjetteams sind allerlei westlichen "Verführungen" ausgesetzt, doch am Ende gewinnen sie gegen das westliche Team. Und nicht nur das: Das Sowjetteam solidarisiert sich sogar mit Arbeitern aus dem Westen. Mehr Provokation geht nicht. Das Ballett "Das Goldene Zeitalter" wurde 1930 am Staatlichen Theater von Leningrad zum ersten Mal getanzt. Doch nach 20 Vorstellungen war Schluss. Choreografie und Musik passten nicht zusammen, hieß es.
Das Stadion ist in diesem Land der einzige Ort, wo man laut die Wahrheit über das sagen kann, was man sieht.
Ein Gedankenspiel: Vielleicht hätte Dmitri Schostakowitsch so als Schiedsrichter auf dem Platz ausgesehen. | Bildquelle: picture-alliance/dpa - Montage BR Schostakowitschs Leben war komplizierter als jedes Fußballspiel. Als seine Oper "Lady Macbeth" im Stalin-Organ Prawda verrissen und abgesetzt wurde, fiel Schostakowitsch in Ungnade, rechnete damit, plötzlich verhaftet zu werden und in ein Arbeitslager zu kommen. Was ihm half: der Fußball. "Das Stadion ist in diesem Land der einzige Ort, wo man laut die Wahrheit über das sagen kann, was man sieht." Angeblich soll ein Unentschieden in einem Länderspiel Schostakowitschs Stimmung so gehoben haben, dass er seine Fünfte Symphonie schneller zu Ende komponierte. Mit diesem Werk rehabilitierte sich Schostakowitsch bei Stalin.
Sein Leben lang war Schostakowitsch Fußball-Nerd: Die Fußball-WM 1966 wollte er live in England sehen, aber ein Herzinfarkt verhinderte das. Kurz vor seinem Tod schaute er sich zumindest noch ein Fußballspiel im Fernsehen an.
Sendung: "Allegro" am 12. Juni 2024 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK
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