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Kritik – Evgeny Kissin in Salzburg Blutige Schwerter

Er gehört zu den Stammgästen der Salzburger Festspiele: der Pianist Evgeny Kissin. Am Mittwoch spielte er im "Haus für Mozart" ein Programm voller Dunkelheit und extremer Gefühle.

Evgeny Kissin | Bildquelle: SF/Marco Borrelli

Bildquelle: SF/Marco Borrelli

Bei der Zugabe geht unerwartet die Sonne auf. Davor war Nacht. Bei Prokofjew gab es bitteren Sarkasmus, bei Brahms schottische Gruselgeschichten mit Vatermord und blutigen Schwertern, bei Chopin einen mit Schweiß und Tränen erkämpften Sieg über feindliche Mächte. Ein ziemlich dunkles Programm also, das Evgeny Kissin zusammengestellt hat. Ausschließlich Werke in Moll. Selbst den melodienseligen Schlusssatz von Beethovens Sonate op. 90 lässt Kissin nicht befreit singen und fließen. Nichts klingt nonchalant, nichts easygoing, alles ist bedeutungsgeladen, jede Linie ausgeleuchtet, jedes Motiv durchdacht.

Aber dann ist das offizielle Programm beendet. Kissin lässt sich nicht lange bitten und spielt als erste von drei Zugaben eine Mazurka von Chopin. Und auf einmal öffnen sich geradezu überraschende Gefühlswelten. Charme, Humor und tänzerische Leichtigkeit blitzen auf. Natürlich: Das kann Kissin ja auch! Und wie. Man hatte es nach diesem Abend fast vergessen.

Kissin der Wahrheitssucher

In den letzten Jahren hat sich Evgeni Kissin, einst Wunderkind und Überflieger, zu einem geradezu grüblerisch ernsten Künstler entwickelt. Ein Wahrheitssucher. Dabei absolut unmanieriert. Natürlich ist er Virtuose durch und durch, aber Selbstgefälligkeiten gibt es bei ihm nicht. Kissin will nicht überreden oder für sich einnehmen, hat es nicht nötig zu beeindrucken oder aufzutrumpfen. Er will in der Musik aufgehen, sich darin verlieren. Dabei aber mit größtmöglicher Genauigkeit alles zeigen, was ihm wichtig ist.

Respekt vor Beethoven

Bei Beethoven ist es das manische Kreisen der Gedanken. Fast demonstrativ vollzieht Kissin den Prozess der thematischen Arbeit nach: Unablässig wird alles Gesagte wieder infrage gestellt, gedreht und gewendet. Die Tempi sind bedacht, die Linien maximal klar, die Dynamik ist reich an Zwischenstufen. In Kissins Gesicht arbeitet es, immer wieder schüttelt er nervös den Kopf beim Spielen. Fast wünscht man sich eine Spur mehr Lässigkeit, mehr Selbstbewusstsein im Zugriff. Und doch ist die Intensität der Auseinandersetzung in jeder Sekunde fesselnd: Kissin dürfte einer der ganz großen Beethoven-Interpreten werden, wenn er dieses Repertoire etwas weniger skrupulös angeht. Noch wirkt es fast, als habe er eine Spur allzu großen Respekt vor dem Klassiker.

Heimspiel Chopin

Ganz anders bei Chopin. Den spielt Kissin viel idiomatischer, das ist quasi Muttersprache. Hier hat er alle Spontanität und Freiheit, hier traut er sich: ein Heimspiel. Und doch wird auch bei Chopin, im Nocturne fis-Moll und der Fantaisie f-Moll, wieder Kissins sorgfältiger Ernst spürbar. Natürlich hat er Spielfreude und Bravour. Aber was ihn eigentlich interessiert, sind die psychologischen Vorgänge, wenn sich depressive Stimmungen in kämpferische Energie und schließlich in einen Siegesrausch verwandeln.

 Meisterschaft, Emotion und ein entfesseltes Publikum

Absolut zuhause ist Kissin auch beim jungen, sozusagen noch undomestizierten Brahms. In den „Vier Balladen“ op. 10 geht es nicht, wie in Brahms‘ reifen Werken, um das Spannungsfeld aus Gefühl und formaler Meisterschaft, sondern um direkte, ungefilterte Emotion. Die Kissin voll auskostet, mal versonnen, mal dramatisch. Und bei Prokofjew kann Kissin dann endlich auch die Schleusen seiner Virtuosität rückhaltlos öffnen. Er stürzt sich förmlich in diese gespentisch zerrissene Musik. Das Publikum lässt sich von der abgedrehten Raserei im Finale anstecken und setzt mit seiner enthusiastischen Reaktion die kaum verklungenen letzten Töne bruchlos fort. Besänftigt wird es erst von der dritten Zugabe: ein zärtlicher Brahms-Walzer – endlich Dur!

Sendung: 9. August 2024 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK

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