Die Klassikwelt ist im Wandel – und die Musikhochschulen könnten dabei zu einer Art Zukunftslabor für die Musikszene werden. Das wünscht sich zumindest die Präsidentin der Hochschule für Musik und Theater in München, Prof. Lydia Grün. Im Orchester-Podcast SCHOENHOLTZ spricht Lydia Grün mit BRSO-Geigerin und Podcast-Host Anne Schoenholtz über ihre Visionen für den Musikernachwuchs.
Bildquelle: Oliver Röckle
Anne Schoenholtz: Eine Musikhochschule ist quasi eine Kaderschmiede für den musikalischen Nachwuchs, für junge Musiker, die die Bühnen der Zukunft beleben. Ich kann mir vorstellen, dass man das Amt einer Präsidentin mit großen Plänen und Visionen antritt. Mit welchen Visionen sind Sie nach München gekommen? Was waren und sind die wichtigsten Hauptziele?
Lydia Grün: Ich habe es als großes Glück empfunden, in München anfangen zu dürfen. Ich bin für vier Jahre gewählt. Seit Oktober 2022 bin ich im Amt und will erstmal reinhören: Wo stehen unsere Studierenden in den unterschiedlichsten Fachrichtungen? Das Kunst- und Kulturleben steht aus meiner Sicht unter Druck. Nach der Corona-Krise umso mehr. Auch die verschiedenen wirtschaftlichen Krisen werden uns sehr stark beeinflussen. Und für mich ist es ganz wichtig, dass die jungen Menschen und auch wir als Beschäftigte selbst gestalten. Wir sollten nicht nur reagieren, sondern in eine aktive Position kommen. Und dazu müssen wir uns selber fragen: Wohin wollen wir? Was sind für uns große Fragen? Was sind für uns große, kritische Momente? Welche Möglichkeiten des Umgangs miteinander gibt es da eigentlich?
Lydia Grün ist Kulturmanagerin, Musikwissenschaftlerin und Publizistin. Sie hatte an der Hochschule für Musik Detmold eine Professur für Musikvermittlung inne und war dort außerdem stellvertretende Gleichstellungsbeauftragte. Von 2017 bis 2021 wirkte sie als Expertin im Rat für Kulturelle Bildung. Als Geschäftsführerin des Netzwerk Junge Ohren e. V. engagierte sie sich von 2013 bis 2019 für die Bedeutung von Musik in einer vielfältigen Gesellschaft. Zuvor war sie von 2008 bis 2012 als Referentin für Musik und stellvertretende Referatsleiterin im Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur und zudem seit 2011 als Geschäftsführerin von Musikland Niedersachsen tätig. Seit dem Studienjahr 2022/2023 ist sie Präsidentin der Hochschule für Musik und Theater in München. Sie bekleidet das Amt als erste Frau.
Anne Schoenholtz: Wie nehmen Sie die heutige junge Generation wahr?
Die Hochschule für Musik und Theater in München: Seit Herbst 2022 ist Lydia Grün die Präsidentin der HMTM | Bildquelle: BR/Fabian Stoffers Lydia Grün: Ich habe Mitte der 90er-Jahre in Leipzig studiert und mich dann nicht für die Musik entschieden, sondern für den Journalismus. Ich habe in meinem Studium ganz viel durch Erfahren gelernt. Ich hatte ganz großen Freiraum. Das war noch vor der Bologna-Reform. Unsere heutigen Studierenden nehme ich allerdings als sehr fokussiert wahr. Das hängt mit Sicherheit auch damit zusammen, dass sie sich sehr lange auf diesen Studienplatz vorbereitet haben. Ich finde das auch gut, und gleichzeitig würde ich mir wünschen – und das ist auch immer mein Appell an unsere Studierenden – an der einen oder anderen Stelle so eine Art von innerer Freiheit zu gewinnen, um mal was auszuprobieren, was vielleicht abseits der Gleise liegt. Ich nehme auch wahr, dass das eine Generation ist, die das tut, wenn sie so eine Art Anwärmphase hinter sich hat. Ich nehme eine Generation wahr, die in sehr langen Rhythmen denkt. Also nicht: Was mache ich im nächsten Jahr oder in den nächsten drei Jahren. Das hängt meiner Meinung nach auch mit dem Thema Klimakrise zusammen und mit der Frage, wie es unserer Welt geht. Da nehme ich schon eine starke fragende Situation wahr. Und letztlich auch eine Unsicherheit.
Wir sind in einem Hochleistungsberuf.
Hier können Sie die gesamte Folge von Anne Schoenholtz mit Prof. Lydia Grün in der ARD Audiothek anhören.
Anne Schoenholtz: Ein Thema wie die Klimakrise ist ja auch eine große Belastung. Ich habe das Gefühl, heute stehen junge Menschen sehr unter Druck.
Lydia Grün: Das teile ich komplett. Die Frage "Wovon erzählen wir auf den Bühnen?" wird von den Studierenden auch gestellt – und dazu ermutige ich sie auch immer wieder. Ich finde auch, dass wache und aktive Lehrende, die das aufnehmen, ganz wichtig sind. Themen wie Zugewandtheit, Achtsamkeit und Nachhaltigkeit werden gerade von Studierenden, die aus Deutschland kommen, sehr tief reflektiert und auch eingefordert. Und ich bin sehr froh, dass es auch viele Lehrende gibt, die da nicht die eine Antwort drauf haben, sondern das für sich aufnehmen, für sich zu übersetzen versuchen, um dann auf einen Weg zu gehen, von dem wir noch nicht wissen, wohin er führt.
Mal was ausprobieren, was vielleicht abseits der Gleise liegt.
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Anne Schoenholtz: Wie fällt Ihre genaue Bestandsaufnahme der klassischen Musikszene aus?
Lydia Grün: Seit 1992 haben wir 20 Prozent unserer Planstellen in den deutschen Orchestern verloren. Das ist viel. Zumal es ein wirklich großes Berufsziel von vielen unserer Studierenden ist, ins Orchester zu kommen. Und ich sehe uns da unter Druck im Sinne von: Wir müssen noch mehr erklären, was wir tun und für wen wir es tun. Das betrifft auch das Thema neuer Konzertformate. Und gerade durch die Corona-Krise haben wir erfahren, wie wichtig doch das Thema Zwischenmenschlichkeit ist – und das betrifft auch das Zwischenmenschliche im Musizieren. Wie können wir entsprechende Rahmenbedingungen für ein professionelles Tun schaffen? Das gibt es nicht zum Nulltarif. Dafür brauchen wir eine starke Stimme aller. Das geht nicht über einzelne Verbände oder Gewerkschaften. Die sind zwar sehr wichtig, aber da ist jede und jeder einzelne gefragt.
Anne Schoenholtz: Ist das nicht auch eine riesige Herausforderung? Ich war damals schon sehr damit gefordert, mein Instrument möglichst gut im Studium zu erlernen. Und jetzt kommt noch dazu, dass man sich mit Musikvermittlung beschäftigt. Fast nach dem Motto: Wie erfindet man die Musikwelt neu? Ist das nicht auch eine Überforderung für die jungen Menschen?
Lydia Grün: Ich vertraue auf die Energie der jungen Generation. Natürlich wollen alle, besonders im Bachelor, erstmal einfach nur üben. Ich finde aber, es ist ureigenstes künstlerisches Tun, darüber nachzudenken, was man erzählen will. Warum mache ich das? Und dafür müssen wir an der Hochschule verschiedene Angebote schaffen, wo diese Fragen gestellt werden können. Das ersetzt natürlich nicht das Üben und auch nicht die Notwendigkeit einer technischen Basis oder das Weiterentwickeln einer eigenen Klangsprache. Es muss ein Teil davon werden. Insofern ist das inhaltlich durchaus anstrengend. Aber wir sind in einem Hochleistungsberuf, und da müssen wir über das Thema Exzellenz in einer ergänzten oder erweiterten Form nachdenken.
Ich vertraue auf die Energie der jungen Generation.
Anne Schoenholtz: Was ist da eine Anregung aus Ihrer Perspektive?
Lydia Grün: Für uns als Ausbildungsinstitution ist es total wichtig zu wissen, dass sich die Lebens- oder Berufsrealität von Orchestermusikern verändert hat und dass wir auch dafür entsprechend ausbilden. Ich finde die Frage interessant, wie ich mich einem Klangkörper verpflichtet fühle. Drückt sich das in der Dauer oder Intensität der der Mitarbeit aus? Und was drückt das auch an inhaltlichen Bedürfnissen aus, wie beispielsweise dem Thema Familie? Oder ist das Orchester für viele das sichere Standbein? Wie passen diese Punkte zusammen? Das ist für mich dabei eine entscheidende Frage, weil das vielleicht auch das Thema des neuen Publikums ist. Und das ist keine Frage von Marketing. Vieles liegt quasi auf der Straße. Wir leben in einer Zeit voller Widersprüche, voller Spannungen, auch voller Sachen, die uns wahnsinnig beschäftigen. Und wenn ich dann abends ein Konzert höre, dann schwingt das in mir nach. Das hilft. Diesen Moment und dieses Erlebnis wünsche ich mir für sehr viele Menschen. Die Punkte, die wir gerade angesprochen haben, sind ein möglicher Weg dahin. Ob dieser Weg erfolgreich sein wird, das weiß ich nicht. Aber nichts zu tun und einfach in alten Struktur zu bleiben, hilft uns auch nicht weiter. Denn dann schaffen wir uns selbst ab.
Themen wie Zugewandtheit, Achtsamkeit und Nachhaltigkeit werden gerade von Studierenden, die aus Deutschland kommen, sehr tief reflektiert und auch eingefordert.
Wie funktioniert ein Orchester? Was tun bei Lampenfieber? Und gibt es auch Orchesterpärchen? Anne Schoenholtz ist Geigerin im Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, kurz BRSO, und nimmt uns mit hinter die Kulissen des Orchesters! Den Podcast finden Sie in der ARD Audiothek.
Sendung: "Allegro" am 26. März 2024 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK