Der Extrembergsteiger unter den Pianisten hat es wieder getan: Igor Levit legt ein neues Album vor – ein Konzeptalbum. "Tristan" heißt es. Levit interessiert sich darin für die Liebe. Kitschig ist das nicht. Eher spröde.
Bildquelle: Felix Broede
Der CD-Tipp zum Anhören
Nachts spiele er nicht, hat Igor Levit gerade erst in einem Interview erzählt. Den Nachbarn zuliebe. Besser ist das. So können die immerhin sein neues Album hören. Denn das geht nur zuhause. Und nur dann, wenn die anderen ruhig sind. Am besten schlafen. Ohne absolute Stille entgeht einem nämlich die Hälfte von dem, was Levit hier macht. Und das ist: über weite Strecken dieses Doppelalbums sehr, wirklich, sehr sehr leise spielen.
Das wäre an sich auch kein Problem, könnte man Levit beim Spielen über die Schulter schauen. Nur ein bisschen näher ran. Aber in seinen Aufnahmen hält Levit die Hörerinnen und Hörer konsequent auf Distanz. Das war schon bei seinem Beethoven so: ziemlich viel Raum und ein leicht indirekter Klang. Hier hat man nun das Gefühl, man sitzt etwa 40 Meter weit weg und schaut, hört dem Pianisten beim Alleinsein zu.
Igor Levit hat zusammen mit BR-KLASSIK zwei Podcasts produziert. Klicken Sie hier für mehr Infos.
Dieses Soundsetting ist nicht nur eine Geschmacksfrage. Er ist auch ein Statement. Schließlich sucht Levit auch hier nach Grenzerfahrungen. Wieder ein Konzeptalbum. Um Liebe geht’s diesmal, um Verlust und Erlösung. Und das im Resonanzraum der Nacht, der zwischen emotionaler Eskalation und winterdeckenweichem Eskapismus so ziemlich alles verstärkt, was das Gefühlsspektrum hergibt. Carte blanche könnte man sagen. Der Sound macht allerdings klar, in welche Richtung es bei Levit geht: Zudecken ist nicht seins, sich aussetzen schon eher. Nachts auf dem kahlen Berge – das ist der Vibe dieses Albums.
Höhepunkt in dieser Hinsicht sind die zwei Klaviertranskriptionen, eher Klangwüsten, die im Herzen dieser Aufnahme dahindörren: Zum einen das Vorspiel zu Wagners "Tristan und Isolde" und dann das Adagio aus Mahlers Zehnter. Beides spielt Levit so zeitlupenlangsam, dass Skelette daraus werden. Da wäre etwa der Beginn des Adagios, dieses suchende Streicherunisono. Bei Levit verliert es jede Orientierung. Ein Tongestocher kurz vor der Verzweiflungsdemenz. Wer will, mag sich dabei Mahler vorstellen, wie er nächtens am Küchentisch lungert und mit dem Brotmesser am Holz kratzt – während ihn die Gedanken an Alma quälen, von deren Affäre mit Walter Gropius er gerade erfahren hat.
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Levit hat diesen biografischen Bezug im Vorfeld der Veröffentlichung selbst hergestellt. Und er hält ihn spielerisch durch. Da bleibt wenig übrig von der Vielfarbigkeit des Orchesterwerks. Stattdessen grimmige Eintönigkeit. Levit lässt die Akkorde nicht blühen, sondern hämmert sie in die Tasten wie ein Eiskletterer seine Pickel. Und das in einem so gemächlichen Tempo, dass man gewiss keine Dissonanz verpasst. Konsequent ist das. Allerdings auch ein wenig ermüdend.
Überhaupt ist dieses Album wahrscheinlich das sperrigste, das Levit bislang vorgelegt hat. Vor die gut 40-minütige Eiswüstendurchquerung durch die Liebesleidmusiken von Wagner und Mahler hat der Pianist noch einen zweiten "Tristan" platziert – Hans Werner Henzes ähnlich lange "Préludes für Klavier, Tonband und Orchester". Auch so ein autobiografisch gefärbtes Werk. Politisches und Persönliches flossen für Henze hier zusammen: der Tod Salvador Allendes im September 1973 und damit das Ende der chilenischen Demokratie, außerdem der tragische Tod der Freundin Ingeborg Bachmann.
Der Pianist und Dirigent Lars Vogt hat den Kampf gegen den Krebs verloren. Er starb am 5. September mit nur 51 Jahren im Kreis seiner Familie. Lesen Sie hier unseren Nachruf.
Als Ausdruck seiner psychischen Krise wollte Henze seinen "Tristan" verstanden wissen. Ziemlich romantische Idee. Kein Wunder also, dass er sich in seiner gewitterwolkensatten künstlerischen Bewältigungsorgie auch romantischer Versatzstücke bedient: Fetzen aus Chopins Trauermarsch tauchen hier auf. Mahler auch. Und die Donnerschläge aus Brahms erster Sinfonie. Allerdings nur kurz, dann versinken sie wieder in Klanggeschnatter. Die romantische Geste war 1973 vielleicht noch einen Versuch wert. Funktionieren konnte sie nicht. Henze versagt sich und uns die Erlösung. Unterm Strich ist es Levit und dem Gewandhausorchester unter Franz Welser-Möst hoch anzurechnen, dass sie dieses Monster aufgenommen haben. Auch wenn’s weh tut.
Pianist allein: Igor Levit | Bildquelle: Felix Broede Da hört sich das, was Levit an Anfang und Ende seines Albums macht, regelrecht wie Balsam an: zweimal Liszt. Unter anderem sein "Liebestraum". Ein Kitschklassiker. Endlich Entspannung? Sicher nicht. Während Levit an anderer Stelle die Langsamkeit zelebriert, zieht er hier ordentlich an. Die Phrasierung bleibt flach. Fast ein wenig hastig klingt das, was er da macht. Da lässt sich niemand ins Rosarot fallen, eher von einem Fiebertraum treiben. Schließlich beschwört auch das Gedicht, das Liszt hier vertont hat, weniger das Liebesglück als die Verlustangst ("O lieb', so lang du lieben kannst"). Eine absolut zwingende Interpretation.
Interessant ist dieses Album schon. Stark, weil konsequent sind Levits Angänge. Beeindruckend auch, wie er die pianistischen Herausforderungen dieser Werke meistert. Glücklich macht es nicht.
Igor Levit – "Tristan"
Franz Liszt:
Liebestraum Nr. 3; Etude d'execution transcendante Nr. 11 "Harmonies du soir"
Richard Wagner / Zoltan Kocsis:
"Tristan und Isolde" – Vorspiel für Klavier
Gustav Mahler / Ronald Stevenson:
Symphonie Nr. 10 – Adagio
Hans Werner Henze:
"Tristan" – Preludes für Klavier, Tonbänder und Orchester
Igor Levit (Klavier)
Leipziger Gewandhausorchester
Leitung: Franz Welser-Möst
Label: Sony Classical
Sendung: "Piazza" am 10. September 2022 ab 8:05 Uhr auf BR-KLASSIK
Kommentare (1)
Donnerstag, 08.September, 16:29 Uhr
Paul
Dünnes Eis
Gute, auch sprachlich exzellente Kritik. Man hat die prätentiösen Klangwelten beim Lesen quasi auf dem inneren Ohr.
(…)
Beim Hören seiner Beethoven-Sonaten (ich war wirklich erwartungsvoll, da Politik und Kunst strikt zu trennen sind) kam ich zu dem Schluss, dass der Hype keine wirkliche Basis im Können hat. Da gibt es wirklich bessere Pianisten im Dunkeln.