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Gianandrea Noseda beim BRSO Tiefe Liebe zu Schostakowitsch

Der Dirigent Gianandrea Noseda ist am 27. und 28. Februar sowie am 1. März beim BRSO zu Gast und dirigiert unter anderem Schostakowitschs 6. Symphonie. Woher seine Leidenschaft für diesen Komponisten kommt, erzählt er im Interview.

Gianandrea Noseda | Bildquelle: © Stefano Pasqualetti

Bildquelle: © Stefano Pasqualetti

BR-KLASSIK: Gianandrea Noseda, viele Jahre lang haben Sie vor allem im Konzertfach gearbeitet. Aber seit 2022 sind Sie Chef der Oper Zürich und haben somit viele Opernverpflichtungen. Ist damit auch Ihr Leben "dramatischer" geworden?

Gianandrea Noseda: Natürlich sind meine Opernverpflichtungen mit der Position in Zürich mehr geworden, auch wenn ich ohnehin schon oft an der Metropolitan Opera in New York dirigiert habe oder als Chef am Teatro Regio in Turin. Ich habe mich eigentlich immer bemüht, ein Verhältnis 50/50 zu halten. Es fühlt sich für mich sehr gesund an, immer zwischen den Genres zu wechseln. Das lässt einen immer wieder frisch an die Werke herangehen.

Es fühlt sich für mich sehr gesund an, immer zwischen den Genres zu wechseln.
Gianandrea Noseda

BR-KLASSIK: Das heißt, es gibt keine richtige Präferenz für das eine oder das andere?

Gianandrea Noseda: Nein. Wenn ich viel Konzert dirigiere, fehlt mir die Oper. Wenn ich viel Oper mache, fehlt mir das Symphonische. Genau deshalb versuche ich, beides gut auszutarieren.

Gianandrea Noseda: Leidenschaft für Schostakowitsch

BR-KLASSIK: Sie hegen ein großes Interesse für Schostakowitsch, haben schon 2004 mit dem BBC Symphony Orchestra, dessen Chef Sie damals waren, Schostakowitsch eingespielt. Woher kommt die Leidenschaft für diesen Komponisten?

Gianandrea Noseda: Das kommt aus meiner Zeit in Sankt Petersburg von 1997 bis 2007. Damals war ich Erster Gastdirigent am Mariinsky-Theater. Dort habe ich extrem viel gelernt und bin regelrecht eingetaucht in die Musik von Prokofjew, Schostakowitsch und Mussorgsky. Ich hatte auch schon früher russische Musik dirigiert – zwar keinen Schostakowitsch, aber Prokofjew. Doch erst dort in Sankt Petersburg, als ich dort richtig gelebt habe – und zwar nicht im Hotel, sondern in einer eigenen, vom Theater gestellten Wohnung – da konnte ermessen, was es heißt, in Russland zu sein. Natürlich nicht so wie vor der Perestroika, vor Glasnost und dem ganzen politischen Wechsel, aber es war trotzdem sehr lehrreich und so hat sich mir einiges erschlossen, was auch in der Musik von Schostakowitsch steckt und zu hören ist.

BR-KLASSIK: Spielt und denkt man diese Musik dort denn anders als im "Westen"?

Gianandrea Noseda: Ja! Es gibt dort sowas wie eine besondere Dringlichkeit. Ein Gefühl des "Sich-Ausdrücken-Müssens". Es ist ein regelrechtes Bedürfnis, eine innere Kraft, die einen dazu bringt, die Musik besser zu verstehen. Das betrifft übrigens nicht nur Schostakowitsch, sondern auch Prokofjew. Als ich nach Sankt Petersburg kam, meinte ich, Prokofjew sei ein Genie, Schostakowitsch dagegen nur ein großer Komponist. Nach einigen Jahren dort aber habe ich verstanden: Beide sind Genies! Und zwar auf allerhöchstem kompositorischen Niveau!

Legendäre Schostakowitsch-Interpretationen: Jansons, Bychkov, Gergiev

BR-KLASSIK: Gibt es denn Dirigenten, die Vorbilder waren in Sachen Schostakowitsch?

Gianandrea Noseda: Die gibt es natürlich! Aus früherer Zeit denke ich da vor allem an Mrawinski. Seine Interpretationen sind legendär. Dann muss ich auf jeden Fall Mariss Jansons nennen. Von ihm gibt es unvergessliche Aufnahmen. Das Gleiche gilt für Semyon Bychkov. Ich erinnere mich an eine Neunte von Schostakowitsch mit ihm, die außergewöhnlich war. Dann natürlich Valery Gergiev. Bei Temirkanov erinnere ich mich mehr an Prokofjew als an Schostakowitsch… Und dann gibt es meiner Meinung nach noch einen anderen ganz großen Dirigenten: Und das ist Kirill Kondraschin. Sein Schostakowitsch-Zyklus ist ein wahrer Meilenstein, mit dem man sich unbedingt beschäftigen sollte.

BR-KLASSIK: Sie haben gerade Mariss Jansons genannt – er war viele Jahre lang Chefdirigent des BRSO und hat die 6. Sinfonie von Schostakowitsch oft dirigiert. Spüren Sie, dass das Orchester mit diesem Repertoire sehr vertraut ist?

Gianandrea Noseda: Dieses Orchester hat einen ganz außergewöhnlichen Klang. Und zwar nicht nur bei Schostakowitsch, auch bei Dallapiccola – ein Stück, das ja eher neu für das Orchester ist. Und ich muss sagen: Ich spüre da regelrecht die Hand von Maestro Jansons, wenn das Orchester russisches Repertoire spielt. Ich erinnere mich an eine Rundfunkübertragung der Sechsten von Schostakowitsch mit dem BRSO aus Luzern. Ich habe sie mir vier Tage, bevor ich für dieses Konzert nach München gereist bin, angehört. Und ich dachte plötzlich: Wie verrückt bin ich eigentlich, hierherzukommen und dieselbe Sinfonie mit diesem Orchester machen zu wollen. Aber dann habe ich mir gesagt: Das ist doch gut so. Hier ist ein Orchester, das diese Musik wirklich verstehen und spielen kann; ein Orchester, das die musikalische Sprache tatsächlich verinnerlicht hat.

Ich spüre regelrecht die Hand von Maestro Jansons, wenn das Orchester russisches Repertoire spielt.
Gianandrea Noseda über das BRSO

Schwierige Lebensumstände: Dallapiccola, Tschaikowsky und Schostakowitsch

BR-KLASSIK: Im Programm mit dem BRSO am 27. und 28. Februar kombinieren Sie drei sehr unterschiedliche Werke: Dallapiccola, Tschaikowsky und Schostakowitsch. Gibt es dennoch sowas wie einen roten Faden?

Gianandrea Noseda: Vielleicht diesen: Alle drei Komponisten drängt es, sich auszudrücken und regelrecht zu den Menschen sprechen zu wollen. Und es gibt auch ein Bedürfnis zum Singen. Selbst bei Dallapiccola, der ja wie Schönberg oder Webern zwölftönig komponiert hat, gibt es eine lyrische, ausdrucksvolle Komponente. Dallapiccola hatte Mussolini zu ertragen –eine Diktatur, die auch die Komponisten kontrolliert hat. Schostakowitsch musste die Stalinzeit durchleiden. Und bei Tschaikowsky waren es die russische Aristokratie und der Zar, unter deren Kontrolle er stand. Also alle drei haben unter ähnlichen Umständen zu leiden gehabt. Sie haben ganz verzweifelt versucht, Ideale wie Respekt, Toleranz, Schönheit, echte Gefühle, Wahrheit und Ernsthaftigkeit auszudrücken – das scheint mir der eigentliche rote Faden des Programms zu sein.

Konzert im Radio und Video-Livestream erleben

Konzert des Symphonieochesters des Bayerischen Runks
28. Februar 2025, 20 Uhr
Gasteig HP8 der Isarphilharmonie in München

Luigi Dallapiccola: Due pezzi
Peter Tschaikowsky: Klavierkonzert Nr. 1 b-Moll
Dmitrij Schostakowitsch: Sinfonie Nr. 6 h-Moll

Solistin: Beatrice Rana, Klavier
Leitung: Gianadrea Noseda

Radioübertragung ab 20:03 Uhr auf BR-KLASSIK
Video-Livestream auf br-klassik.de

Schostakowitschs "Sinfonie ohne Kopf"

BR-KLASSIK: Die 6. Sinfonie von Schostakowitsch ist ein relativ kurzes, dreisätziges Werk, das seltsamerweise mit einem langsamen Satz beginnt, dem zwei schnelle Sätze folgen. Das hat Schostakowitsch zu Lebzeiten den Vorwurf eingebracht, er habe eine "kopflose Sinfonie" komponiert. Wie deuten Sie diese ungewöhnliche Struktur?

Gianandrea Noseda: Ich denke, es ist eine "anormale" Sinfonie, diese "Sinfonie ohne Kopf". Man könnte meinen, dass ihr der erste Satz fehle. In Wahrheit aber ist es eine Sinfonie mit einer besonderen Kraft. Sie ist ja kurz nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs entstanden und hat dementsprechend auch einen direkten geschichtlichen Bezug. Mir persönlich fehlt da kein erster Satz. Es stimmt natürlich: Die Sinfonie erscheint zunächst ein bisschen disproportioniert zu sein mit diesem ersten Satz, der länger ist als die zwei nachfolgenden zusammen. Der zweite Satz ist dann wie ein dämonisches Scherzo. Und der letzte Satz wirkt wie ein Galopp, eine Art Zirkuspolka oder ein Rondo, das – wie immer bei Schostakowitsch – voller Sarkasmus und Ironie steckt. Also haben wir es hier tatsächlich mit einer atypischen Sinfonie zu tun – einem echten Unikum im Universum der 15 Sinfonien von Schostakowitsch.

Schostakowitschs Sechste beginnt in der Stille, endet aber im Zirkus!
Gianandrea Noseda

BR-KLASSIK: Es gibt einen interessanten Film mit Leonard Bernstein, der die 6. Sinfonie erklärt und meint, Schostakowitsch knüpfe damit an Tschaikowskys "Pathétique" an. Er mache mit der Sechsten genau dort weiter, wo Tschaikowsky aufgehört habe….

Gianandrea Noseda: Ich könnte nie etwas gegen die Deutung eines Leonard Bernstein sagen…! Meiner Meinung nach aber beginnt die "Pathétique" von Tschaikowsky mit diesem besonderen Fagottsolo, das aus dem Nichts kommt und auch im Nichts verklingt. Die 6. Sinfonie von Schostakowitsch dagegen beginnt zwar in der Stille, endet aber im Zirkus! Ich weiß nicht so richtig, ob ich Schostakowitschs Sechste als eine Weiterführung von Tschaikowskys Sechster deuten soll. Natürlich muss man feststellen: Beide haben die gleiche Tonart h-Moll. Es ist eine Suggestivfrage, ob man denkt wie Bernstein. Ich denke eher, es sind zwei unterschiedliche Sinfonien. Die eine verharrt in der Stille. Die andere entspringt einer Introspektion, einer Innensicht, die im dritten Satz aber nach außen gewandelt wird. Ein Verlauf, bei dem sich etwas öffnet und entwickelt.

BR-KLASSIK: Bernstein hat ja auch gesagt, diese letzten beiden überdrehten Sätze seien wie eine Komödie…

Gianandrea Noseda: Ja, ein Akt aus einer Komödie, ein Akt voller Leichtigkeit, der aber auch viel Ironie in sich trägt: Es gibt Elemente aus dem Zirkus, aber auch Elemente wie von einer Dorfkapelle – mit diesem Kontrarhythmus und dem Einsatz des Schlagwerks. Für mich führt das ein bisschen in die Nähe von Mozarts "Don Giovanni": ein dramma giocoso – also ein lustiges Drama, das voller Jugendlichkeit und Freude steckt.

Publikum reagiert unterschiedlich auf Schostakowitsch

BR-KLASSIK: Die Sechste ist sicher nicht die populärste Sinfonie von Schostakowitsch. Wie kommt sie Ihrer Erfahrung nach beim heutigen Publikum an?

Gianandrea Noseda | Bildquelle: Sussie Ahlburg Gianandrea Noseda ist beim Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks zu Gast und dirigiert die 6. Symphonie von Dmitrij Schostakowitsch. | Bildquelle: Sussie Ahlburg Gianandrea Noseda: Wie das Publikum auf die Sechste reagiert, unterscheidet sich von Land zu Land. In Italien ist Schostakowitsch nicht besonders populär, in England und Amerika dagegen einigermaßen. Und die paar Male, die ich Schostakowitsch auf einer Tour in Deutschland gespielt habe – in Hamburg und auch hier in der Isarphilharmonie in München mit dem London Symphony Orchestra vor drei Jahren – da haben wir die 15. von Schostakowitsch gemacht und darauf hat das Publikum leidenschaftlich stark reagiert. Also in Deutschland habe ich mit Schostakowitsch immer gute Erfahrungen gemacht. Als Interpret muss man Schostakowitsch vertrauen.

Ich erinnere mich an meine Zeit als Pianist. Da erzählte mir mein Lehrer eine Anekdote von Swjatoslaw Richter. Einer seiner Freunde war zu ihm gegangen und hatte gesagt: "Swjatoslaw, ich glaube, der zweite Satz war ein bisschen zu langsam." Und er antwortete nur: "In Ordnung. Morgen werde ich ihn noch ein bisschen langsamer nehmen…!" Was ich damit sagen will: Man sollte der Musik vertrauen und nicht versuchen, das zu erfüllen, was das Publikum von einem erwartet. Vertraue einfach dem Komponisten. An uns Interpreten ist es, die Musik einfach bestmöglich anzubieten. Freilich, die 6. Sinfonie von Schostakowitsch ist nicht so populär wie die Fünfte oder die Zehnte oder die Achte. Die sind populärer. Aber ich liebe die Sechste, die Neunte, die Vierte, oder die Elfte – das ist fast so eine jugendlich-schwärmerische Liebe.

Man sollte der Musik vertrauen und nicht versuchen, das zu erfüllen, was das Publikum von einem erwartet.
Gianandrea Noseda

Schostakowitsch-Zyklus mit dem London Symphony Orchestra

BR-KLASSIK: Das ist eine ganz große Liebe auch insofern, als Sie ja derzeit einen Zyklus mit dem London Symphony Orchestra machen und alle Schostakowitsch-Sinfonien aufführen. Wie ist das bisher gelaufen?

Gianandrea Noseda: Bisher war das eine außergewöhnliche Erfahrung – mit dem LSO alle Sinfonien zu machen. Jetzt fehlen nur noch die 12. und die 2. Sinfonie, dann haben wir den Zyklus abgeschlossen. Und ich muss sagen: Dafür ein solches ausgezeichnetes Orchester wie das London Symphony Orchestra zur Verfügung zu haben, musikalisch explodieren zu können, der Partitur auf den Grund zu gehen, sie zu durchleuchten, zu umarmen – und das nicht nur mit einer oder mit fünf Sinfonien, sondern mit allen – das war eine unfassbar bereichernde Erfahrung für mich. Es gab einen Moment, kurz vor der Pandemie, da hab ich mich gefragt: Macht dieses Projekt, alle Schostakowitsch-Sinfonien aufzuführen, überhaupt noch Sinn? Dann kam Corona. Danach begann ein Krieg. Dann noch einer. Natürlich macht es Sinn, Schostakowitsch zu spielen – auch heute noch! Sehr großen Sinn sogar!

Sendung: "Live aus dem Gasteig HP8 der Isarphilharmonie in München - Konzert des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks" am 28. Februar 2025 ab 20:03 Uhr auf BR-KLASSIK

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