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Jörg Widmann bei "musica viva" "Manchmal muss man sich verirren"

Ein Trompetenkonzert, bei dem der Solist durchs Orchester wandert: Jörg Widmann sieht sein Werk "Labyrinth VI" auch als Metapher für das Leben. Am 28. Juni ist der umtriebige Musiker und Komponist bei der Konzertreihe "musica viva" in München zu Gast.

Der Komponist Jörg Widmann bei der Arbeit. | Bildquelle: Marco Borggreve

Bildquelle: Marco Borggreve

BR-KLASSIK: Herr Widmann, Ihr Orchesterstück "Armonica" ist von sphärischen Glasharmonika-Klängen inspiriert. Können Sie sich erinnern, wann Sie selbst zum ersten Mal die Glasharmonika im Klang wahrgenommen haben?

Jörg Widmann: Ich glaube, es war bewusst zum ersten Mal bei den Wiener Philharmonikern, als ich für das Orchester mein Stück "Armonica" geschrieben habe. Da habe ich nachgefragt: Was ist denn dieses berühmte Wiener Horn, die Wiener Oboe? Die Wiener Philharmoniker haben mich netterweise zu einer Probe eingeladen, ich durfte die Hornisten und Oboisten treffen. Bei der Gelegenheit habe ich auch Christa Schönfeldinger getroffen, die mir auf der Glasharmonika vorgespielt hat, und zwar das Adagio für Glasharmonika von Mozart KV 617a. Mir standen wirklich die Tränen in den Augen. Das war eine Schönheit, die geradezu aus dem Himmel zu kommen schien! Da wusste ich im Prinzip, wie mein Stück klingen soll.

"musica viva" im Radio

Die Konzertreihe "musica viva" des Bayerischen Rundfunks ist eines der weltweit bedeutendsten Foren der Gegenwartsmusik. Am 28. Juni 2024 stehen Kompositionen von Jörg Widmann auf dem Programm, der auch selbst dirigiert und Klarinette spielt. Weitere Solisten sind Håkan Hardenberger (Trompete) und Christa Schönfeldinger (Glasharmonika).Den Konzertmitschnitt sendet BR-KLASSIK am 5. Juli um 20:05 Uhr.

Jörg Widmann arbeitet seit Jahren an seinem "Labyrinth"-Zyklus

BR-KLASSIK: Beim Konzert der "musica viva" am 28. Juni steht auch Ihr Stück "Labyrinth VI" auf dem Programm. Sind Sie jemand, der sich gerne, vielleicht sogar absichtlich verirrt?

musica viva: Jörg Widmann, Hakan Hardenberger und Christa Schönfeldinger | Bildquelle: LMN Berlin Jörg Widmann, Håkan Hardenberger und Christa Schönfeldinger sind die Solisten beim Konzert der "musica viva" am 28. Juni 2024. | Bildquelle: LMN Berlin Jörg Widmann: In der Musik ja, aber es ist auch schön, den Ausgang zu finden. Mich beschäftigt dieser Labyrinth-Zyklus seit vielen Jahren. Das BRSO habe ich offiziell zum ersten Mal mit dem Labyrinth III dirigiert, ein riesiges Orchesterstück. Diesmal ist das Labyrinth VI dran: das Trompetenkonzert "Towards Paradise". Das Stück ist in der Corona-Zeit geschrieben, wo uns natürlich genau das, was uns Menschen ausmacht, so schwer gemacht wurde, nämlich das Kommunizieren, der Austausch. Deshalb wandert der Trompeter durch die verschiedenen Orchestergruppen, um Freundschaften zu schließen, um Kontakt zu knüpfen. Von seinen eigenen Trompetern wird er übrigens rüde zurückgewiesen.

BR-KLASSIK: Der Trompeter wandert ja tatsächlich durch das Orchester...

Jörg Widmann: Ganz genau, und das ist tatsächlich ein Labyrinth. Manchmal geht es nicht weiter. Ich finde, es ist eine schöne Metapher fürs Leben und auch für die Kunst. Die Suche hört ja nie auf. Trotzdem: Je älter ich werde und je mehr Labyrinthe ich schreibe, desto öfter geht es mir auch um die Suche nach einem Ausgang. Bei "Towards Paradise" sei jedem Hörer und jeder Hörerinnen überlassen, ob da am Schluss ein Ausgang gefunden wird. Ich glaube ja, es geht hin zum Paradies. Aber gleichzeitig endet der Trompeter auch schrecklich einsam, das Orchester schweigt. Es ist schön, wenn Kunst vieldeutig bleibt.

Es ist schön, wenn Kunst vieldeutig bleibt.
Jörg Widmann

DOKUMENTARFILM "IM LABYRINTH – DER MUSIKER JÖRG WIDMANN"

Der Dokumentarfilm "Im Labyrinth" begleitet Jörg Widmann bei der Komposition seines Trompetenkonzertes "Towards Paradise" (Labyrinth VI), das im Auftrag des Gewandhausorchesters Leipzig und des Boston Symphony Orchestra entsteht – von den ersten Entwürfen bis zur Uraufführung. Im Mai wurde der Film mit dem Deutschen Kamerapreis ausgezeichnet. Hier ist er in der ARD Mediathek zu sehen.

Jörg Widmann ist Komponist, Klarinttist und Dirigent

BR-KLASSIK: Als Künstler und auch im Kompositionsprozess kommt es sicher häufig vor, dass man sich verirrt. Was ist Ihr Geheimrezept für diese Situationen?

Jörg Widmann: Ich würde viel drum geben, ein Geheimrezept dagegen zu kennen. In der Kunst wie auch im Leben geht es um Entscheidungen, man steht sozusagen vor verschiedenen Türen. Vielleicht geht es hier weiter, dann geht es dort nicht weiter. Wenn so eine Entscheidung ansteht, ob das Stück hierhin geht oder dorthin, empfinde ich das nach wie vor als Frage auf Leben oder Tod. Aber die "Labyrinthe" haben mich gelehrt: Es muss nicht so sein. Manchmal muss man sich auch verirren. Ich kenne keine Biografie, keinen Lebensweg, der geradeaus geht. Wie schön eigentlich! Manchmal hat man das Gefühl: Mensch, jetzt bin ich drei Schritte zurückgegangen. Und dann merkt man plötzlich: Das musste ich machen, um fünf Schritte voranzukommen.

BR-KLASSIK: Beim Konzert der "musica viva" sind Sie nicht nur Komponist, sondern auch Dirigent und Klarinettist. Kommen Sie sich da manchmal selbst in die Quere?

Jörg Widmann | Bildquelle: Marco Borggreve Jörg Widmann wird beim Konzert der "musica viva" am 28. Juni als Klarinettist, Dirigent und Komponist auftreten. | Bildquelle: Marco Borggreve Die Umstellung ist nicht ohne. Ich dirigiere das erste Stück. Dann spiele ich ein Stück auf der Klarinette, das für die Finger und für den Ansatz sehr schwer ist. Wenn ich als Komponist etwas geschrieben hat und es nicht klar funktioniert, zum Beispiel weil die Dynamik im Blech viel zu laut für die Streicher ist, dann muss ich als Dirigent schimpfen. Das tue ich dann auch vor dem Orchester und sage: Mensch, da hat der Komponist eine sehr optimistische Dynamik fürs Blech geschrieben. Wenn ich merke, dass ich einfach etwas falsch gemacht habe, retuschiere ich auch manchmal noch Stücke.

Sendung: "Allegro" am 26. Juni 2024 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK

Kommentare (1)

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Sieben minus drei ergibt?

Mittwoch, 26.Juni, 20:23 Uhr

A. Walter

Danke für das Interview!

Jörg Widmann ist eine Ausnahmeerscheinung in der modernen Musiklandschaft; er steht immer im Dialog mit dem Wesen der Musik – ganz gleich, ob er sie komponiert, sie dirigiert oder auf der Klarinette spielt.

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