Trauer, Trost, Transzendenz. Das BRSO spielt ein Programm mit Werken, die das Thema Tod verhandeln. Marc Anthony Turnages "Remembering" und das "Deutsche Requiem" von Johannes Brahms: Berührende Erinnerungsmusik, erfüllt von transformativer Kraft. Jenseits von Konfession vermitteln beide Kompositionen das, was heute wichtiger ist denn je: die Kraft des Humanismus. Am 13. und 14. Februar dirigiert Sir Simon Rattle beide Werke beim BRSO. Mit dabei: Der Chor des Bayerischen Rundfunks.
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BR-KLASSIK: "Remembering" von Marc Anthony Turnage ist ein Stück über den Sohn von Gitarrist John Scofield, Evan, der als junger Mann an Krebs gestorben ist. Welche Beziehung haben Sie zu dieser Komposition, die Sie selbst uraufgeführt und eingespielt haben?
Simon Rattle: Ich arbeite schon meine gesamte Karriere über mit Mark Anthony Turnage zusammen. Als ich nach Birmingham ging, war er unser erster Composer in Residence. Ich spiele seine Musik seit fast 40 Jahren. Was "Remembering" betrifft, muss ich etwas ausholen. Ich habe mehrfach ein anderes Stück von Mark Anthony Turnage dirigiert, nämlich "Blood on the Floor" für großes Ensemble und drei improvisierende Jazzmusiker. John Scofield, dieser großartige Jazz-E-Gitarrist, dessen Sohn das Stück gewidmet ist, war einer dieser Musiker. So haben wir viel zusammengearbeitet, Mark Anthony Turnage, John Scofield und ich. "Blood on the Floor" hat eine ähnliche Geschichte wie "Remembering". Es handelt von Marks Bruder, der im gleichen Alter wie Evan Scofield an einer Heroinüberdosis starb. Das hat Mark Anthony Turnage dazu inspiriert, diese besonders ehrliche Musik zu schreiben – die beiden langsamen Sätze von "Remembering" sind herzzerreißend. "Remembering" passt hervorragend mit dem "Deutschen Requiem" von Johannes Brahms zusammen, ein spirituelles Requiem ohne religiösen Bezug.
BR-KLASSIK: Inwiefern ergänzen sich die beiden Kompositionen?
Simon Rattle: Das "Deutsche Requiem" ist tiefe Musik der Erinnerung – nicht nur für Brahms‘ eigene Mutter, sondern auch für Robert Schumann. Brahms hat den zweiten Satz skizziert, als Robert Schumann gerade einen Suizidversuch unternommen hatte und in eine Anstalt eingeliefert wurde. Das ging Brahms, der ja mit Schumann befreundet war, genauso nahe, wie der Tod von Evan Scofield dem Komponisten Mark Anthony Turnage nahe ging – er kannte ihn ja auch. Die beiden Stücke kommunizieren miteinander. Interessant ist Folgendes: Ich hatte Marc Anthony Turnage zur Entstehungszeit seines Werkes darum gebeten, den ersten Satz ohne Geigen zu konzipieren, was er auch gemacht hat. Das Requiem von Brahms beginnt ebenfalls ohne Geigen im ersten Satz. Beide Werke drücken tiefe Trauer aus, aber auch eine verwandelnde Freude innerhalb dieser Trauer.
BR-KLASSIK überträgt das Konzert mit Sir Simon Rattle und dem BRSO live aus dem Herkulessaal der Münchner Residenz: am 14. Februar ab 20:03 Uhr im Radio.
BR-KLASSIK: Beide Stücke reflektieren den Tod. Wie nahe kommt Ihnen dieses Thema bei so einem Programm?
Simon Rattle: Ich bin jetzt 70 Jahre alt, das ist nichts! Zum 70. Geburtstag bekam ich eine wunderbare Videobotschaft vom 97-jährigen Herbert Blomstedt, der sagte: "Oh, du bist 70, das bedeutet, dass du noch viele große Geburtstagsfeiern haben wirst."
Du solltest noch 50 Jahre leben, damit du dieses wunderbare Orchester länger genießen kannst!
BR-KLASSIK: Johannes Brahms war noch jünger, als er das "Deutsche Requiem" geschrieben hat...
Simon Rattle: Ja, er war noch in den 30ern. Aber jetzt nochmal zu Schumann: Brahms und Schumann waren Freunde. Robert Schumann hat Brahms viel gegeben, nicht nur durch seine außergewöhnliche Großzügigkeit, sondern auch durch die Tatsache, dass er eine der damals größten Bibliotheken mit früher Musik hatte. Brahms hat erst durch Schumann von Komponisten wie Heinrich Schütz erfahren. Diese Bekanntschaft mit früher Musik spürt man im "Deutschen Requiem" - so romantisch es auch daherkommt. Es ist vollkommen durchzogen von der Idee der alten Musik, zum Beispiel von der Doppelchörigkeit. Also davon, wie der Chor mit dem Orchester spricht und das Orchester antwortet.
Brahms wusste offensichtlich nicht, dass Menschen, die in Chören singen, auch Menschen sind.
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Das "Deutsche Requiem" ist eines der Musikstücke, die man kaum beschreiben kann. Denn alles, was man darüber sagt, kann auch das Gegenteil bedeuten. Es bringt Trauer und Freude und Trost zusammen. Brahms schaut auf ein anderes, jenseitiges Leben, ohne in irgendeiner Weise religiös zu sein. Er hat ja sogar Schwierigkeiten bekommen, weil die Leute ihm sagten: "Du musst über das Christentum sprechen!" Aber Johannes Brahms wollte genau das nicht, ganz im Gegenteil! Was für eine außergewöhnliche Sache für einen jungen Komponisten. Und was für ein außergewöhnliches Risiko, das er da eingegangen ist. Das Einzige, woran man erkennen kann, dass er das "Deutsche Requiem" als junger Mann geschrieben hat, ist die Tatsache, dass er offensichtlich nicht wusste, dass Menschen, die in Chören singen, auch Menschen sind. Es gibt nämlich kaum ein Stück im Repertoire, das schwieriger und anstrengender für die Sängerinnen und Sänger ist. Besonders herausfordernd ist es, im letzten Satz Leichtigkeit, Schönheit und Gelassenheit zu empfinden nach all dem, was man vorher zu bewältigen hatte. Nur ein junger Komponist tut sowas. Aber was für ein junger Komponist!
BR-KLASSIK: Johannes Brahms hat sein "Deutsches Requiem" als "Menschenwerk" bezeichnet. Es gibt heutzutage viele Menschen, die sich als spirituell bezeichnen und nicht als religiös. Da war er doch eigentlich ein supermoderner Mensch damals, im 19. Jahrhundert, wo es das noch nicht so oft gab.
Simon Rattle: Ja, aber man muss dazu sagen, dass er die Idee zum "Deutschen Requiem" in den Unterlagen von Robert Schumann gefunden hatte. Schumann wollte etwas Ähnliches schreiben. Er sagte, es könnte auch einfach ein menschliches Requiem sein. Das ist als Idee genauso radikal wie das "War Requiem" von Benjamin Britten. Die Botschaft ist, dass Humanismus und Religion gleichwertig sind – gleich kraftvoll. Diese Auffassung ist radikal, genauso wie die Orchestrierung, bei der Brahms nicht nur ohne Violinen beginnt, sondern statt einer mindestens drei Harfen verlangt. Es sei Johannes Brahms gedankt, dass er so weit gegangen ist. Was ich sehr hilfreich fand beim Einstudieren, sind die Metronomangaben, die er zu Beginn notiert hatte, obwohl er sie später entfernen ließ. Sie erinnern mich daran, dass das Stück fließen sollte und nicht schwer, düster und starr daherkommen sollte. Es ist Musik eines jungen Menschen.
BR-KLASSIK: Können Sie als Dirigent tief eintauchen in die Emotionalität dieser Musik, die ja beim Thema Tod besonders stark ist oder müssen Sie da aus Professionalität eine Distanz halten?
Simon Rattle: Johannes Brahms spricht nur am Ende der Komposition über den Tod. Das Wort "Tod" wird im sechsten Satz zum ersten Mal ausgesprochen. Und die Stimme seiner Mutter, gesungen vom Sopran, sagt: "Ich werde da sein. Ich werde auf dich aufpassen." Ein Mann wie Johannes Brahms, der von klein auf ein außergewöhnlich hartes Leben führte, wusste, was das bedeutet. Das "Deutsche Requiem" geht um viel mehr als den Tod. In gewisser Weise hat Brahms den Tod hier transzendiert. Er schrieb es zu einer Zeit, wo er besonders offen war. Ich liebe zwar alle seine Werke. Aber je älter er wird, desto mehr spürt man so eine Art emotionale Schutzrüstung bei ihm. Das "Deutsche Requiem" dagegen ist noch ein sehr offenherziges Stück. Die Message ist: "Ja, es wird alles in Ordnung sein."
BR-KLASSIK: Es hat also etwas Aufbauendes, Optimistisches. Trotzdem noch einmal nachgefragt: Wie nah lassen Sie das an sich persönlich heran?
Simon Rattle: Es geht um die Essenz für jeden Menschen. Es gibt kein Entkommen. Seien wir also realistisch. Jede und jeder muss ein realistischer Mensch sein. Der Tod erinnert mich daran, zu leben und daran, dass jeder Moment ein Geschenk ist. Was auch immer gerade los ist, wir müssen da durch.
Wir sollten Freude in dem finden, was da ist.
BR-KLASSIK: Kann die Musik uns Menschen in dieser Hinsicht mehr geben als andere Künste, die eben nicht so vergänglich sind?
Simon Rattle: Musik hat die Eigenschaft, sich in die Seele einzuschleichen. Für mich ist sie die direkteste aller Kunstformen. Es ist seltsam: Wir sprechen jetzt über die wichtigen Dinge, über die man eigentlich gar nicht sprechen kann. Vielleicht ist das der Grund, warum wir alle Musiker geworden sind.
BR-KLASSIK: Kommen wir noch ein bisschen zu Ihnen, Sir Simon Rattle. Sie vermitteln den Eindruck, dass Sie sehr kontaktfreudig und ein großer Menschenfreund sind.
Sir Simon Rattle | Bildquelle: BR
Simon Rattle: Das ist der Grund, weshalb ich lieber Dirigent als Pianist geworden bin. Als Dirigent bin ich von anderen Menschen abhängig: Das ist etwas Schönes, denn ich arbeite mit ihnen und schaffe eine tiefe Verbindung. Ich empfinde mich als einen der glücklichsten Menschen, weil ich das erleben darf. Dass mir diese Möglichkeit gegeben wird! Ich habe die Gelegenheit, andere Menschen auf tiefer Ebene zu verstehen, ohne dass ich sie unbedingt gut kennen muss. Ich weiß vielleicht nicht viel über die oberflächlichen Dinge aus dem Leben der Musikerinnen und Musiker, aber die tiefsten Dinge liegen ganz offen auf einem Silbertablett. Man kann sich als Musiker nicht voreinander verstecken. Das ist ein Geschenk.
BR-KLASSIK: Jetzt könnte man im Moment aber auch an der Menschheit verzweifeln, wenn man sich so die Gesellschaft anschaut. Haben Sie auch diesen Teil oder sind Sie von Grund auf jemand, der Menschen mag und auch an die Menschen glaubt?
Simon Rattle: Natürlich ist die jetzige Zeit kein besonders optimistischer Moment für den Planeten, in so vielerlei Hinsicht! Aber dann denke ich wieder: Gerade jetzt brauchen wir Menschen die Musik mehr denn je. Aber ja: Ich bin Vater von fünf Kindern und frage mich, was wir Ihnen hinterlassen für die Zukunft.
Sendung: "Leporello" am 12. Februar 2025 um 16:05 auf BR-KLASSIK
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