Eine Stunde mit Genre-übergreifender Musik der 1920 Jahre und darüber hinaus: "Die Wilden" heißt diese aktuelle Ausgabe der wöchentlichen Sendung "Jazz und mehr". Mit Musik von Lotte Lenya, Ute Lemper, Friedrich Hollaender, Arnold Schönberg, Weintraubs Syncopators und anderen.
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Es war eine musikalische Glanzzeit – und überhaupt eine Glanzzeit der Künste. In den 1920er-Jahren und darum herum gab es zumal im deutschen Sprachraum eine immense musikalische Vielfalt. In Berlin formierten sich herausragende frühe Jazzbands, es wurden Jahrhundertwerke wie die "Dreigroschenoper" oder eben "Wozzeck" uraufgeführt. Musik löste althergebrachte Formen – und nicht zuletzt die Tonarten – auf und fand völlig neue Gestaltungsmuster. Die Rhythmen wurden hitzig und lebendig wie selten zuvor, Songs entdeckten durch Text-Autoren wie Bertolt Brecht und Kurt Tucholsky völlig neue Themen und neue Ausdrucksdimensionen – und sie swingten elegant. Populäre Vokalmusik fand unerhört charmante Zusammenklänge, die wenig später aus rassistischen Gründen so nicht weiter existieren konnten. Musik vor 1933 im deutschsprachigen Raum – und zumal in Berlin – brach rasant, scheinbar selbstverständlich und ungemein formenreich mit Konventionen, ging auf Entdeckungsreise, blickte ständig über eigene Stilgrenzen hinaus.
In der Sendung "Jazz und mehr" ist unter anderem eine Klangcollage zu hören, die in knapp dreieinhalb Minuten Schlaglichter auf zehn unterschiedliche Aufnahmen aus jener Zeit wirft – von einem sehr berühmten Klavierstück Arnold Schönbergs über die große Brecht-Interpretin und Kurt-Weill-Ehefrau Lotte Lenya bis hin zu einer Aufnahme der besten deutschen Jazz- und Unterhaltungsbands Deutschlands zu jener Zeit: Weintraubs Syncopators. Danach aber kann man etwas länger auf einzelnen Klängen verweilen. Zum Beispiel auf dem berühmten "Tiger Rag". Das war ein Stück, das von der amerikanischen Original Dixieland Jass Band stammte: jener Band, die 1917 in New York City die erste Jazz-Schallplatte überhaupt aufgenommen hatte. Hier wird eine Aufnahme aus Berlin zu hören sein, aus dem Jahr 1929. Der aus den USA stammende Bandleader und Schlagzeuger Lud Gluskin, der bis 1931 in Berlin blieb, spielte es damals in der pulsierenden deutschen Metropole ein. Das war nicht die erste in Deutschland entstandene Aufnahme dieses Stücks. Bereits 1919 hatte den "Tiger Rag" in Berlin eine Band um den Engländer Frank Groundsell nachgespielt, die "Original Excentric Band": Ihre Aufnahme des "Tiger Rag", veröffentlicht 1920, war die erste deutsche Jazzplatte. Aber diese Band war noch weit entfernt von der Lebendigkeit und fetzigen Kraft von Lud Gluskin & His Orchestra. Der Jazz erlebte in den 1920er-Jahren auch außerhalb der USA eine enorme Entwicklung.
Komponist Arnold Schönberg | Bildquelle: picture-alliance / IMAGNO/Photoarchiv Setzer-Tschie | Franz Xaver Setzer In der schriftlich fixierten Musik fand in den 1920er-Jahren der Aufbruch in die Zwölftonmusik statt. In seinen "Fünf Klavierstücken" op. 23 aus den Jahren 1920 bis 1923 verwendete der Komponist Arnold Schönberg zum ersten Mal diese Kompositionstechnik. Die Zwölftonmusik baut auf Tonreihen auf, in denen alle Töne der chromatischen Tonleiter (also sowohl diejenigen auf den weißen als auch die auf den schwarzen Tasten) vorkommen müssen und keiner wiederholt werden darf. Arnold Schönberg wollte damit die Hierarchie aufheben, die es etwa bei den herkömmlichen Dur- und Molltonarten gibt. Denn im Dur-Moll-System strebt alles auf den Grundton hin, wodurch eine unterschiedliche Bedeutung der Töne einer Tonleiter entsteht. Bei der Komposition mit zwölf, wie es heißt, "nur aufeinander bezogenen Tönen" hat jeder Ton das gleiche Recht, mindestens theoretisch. Das strebte Schönberg an, also klanggewordene Demokratie. Aus den Klavierstücken op. 23 ist in der Sendung das letzte Teilstück zu hören: dasjenige, in dem der Komponist die Zwölftontechnik zum ersten Mal anwendete – was in den anderen vieren des Opus nicht der Fall war. Die ausgewählte Aufnahme ist eine mit dem Pianisten Herbert Henck von 1994 aus dem Studio 3 des Bayerischen Rundfunks in München.
Wissenswertes rund um die Musik der 1920er Jahre, Edutainment-Videos zu Schlüsselwerken und Musik der Epoche finden Sie hier im BR-KLASSIK-Dossier.
Comedian Harmonists | Bildquelle: picture-alliance/dpa Ebenfalls in den 1920er-Jahren (genauer 1928) gründete sich in Berlin eine außergewöhnlich erfolgreiche Vokalgruppe: die Comedian Harmonists. Die Geschichte dieser Gruppe war bemerkenswert und tragisch: "Achtung. Selten", hieß es in einer Zeitungs-Anzeige vom Dezember 1927, und weiter: "Schön klingende Stimmen für einzig dastehendes Ensemble": Das suchte ein 21-jähriger gescheiterter Schauspielschüler namens Harry Frommermann. Über 70 Bewerber meldeten sich, nur mit einem war er zufrieden, einem Sänger namens Robert Biberti. Der stellte Frommermann später einige Kollegen aus dem Chor des "Großen Schauspielhauses" vor – und so fanden sechs Männer zusammen, die am 16. Januar 1928 zum ersten Mal in der Mansardenwohnung Frommermanns probten. 1929 feierte das Ensemble bereits seinen Durchbruch. Zum einen durch die "Funk-Stunde Berlin" - das war der erste Hörfunksender in Deutschland, der im Oktober 1923 den Betrieb aufgenommen hatte und 1934 in den Reichssender Berlin umgewandelt wurde. Und zum anderen durch Grammophonplatten. Die Geschichte endete wie bei vielen der allergrößten Musiker aus den Jahren der Weimarer Republik: durch ein Verbot durch die Nationalsozialisten. Im März 1934 setzte Propagandaminister Joseph Goebbels die Pflicht eines "Ariernachweises" durch, damit Musiker in die Reichsmusikkammer aufgenommen werden konnten – was ebenfalls Pflicht war. Drei Mitglieder der Comedian Harmonists waren Juden, so wurde im Februar 1935 den drei anderen Mitgliedern der Comedian Harmonists schriftlich verboten, "weiterhin mit diesen Nichtariern zu musizieren". Die drei jüdischen Mitglieder bekamen Berufsverbot – den anderen wurde freigestellt, ihre Musik mit "arischen" Kollegen weiterzubetreiben. Eine Zerschlagung, obwohl das Sextett so erfolgreich war, dass es sogar auf Tournee in die USA gegangen war. Die drei jüdischen Mitglieder gingen nach Wien, nannten sich "Comedy Harmonists" und feierten weiter internationale Erfolge. 1941 befanden sie sich in New York, als die USA in den Krieg eintraten. Das Ensemble fiel auseinander. Für ein neues fehlte Frommermann das Geld. Nach dem Krieg arbeitete er unter anderem als Übersetzer bei den Nürnberger Prozessen und hielt sich Jahre lang mit den unterschiedlichsten Berufstätigkeiten über Wasser.
Zwei wichtige Ausnahmen präsentiert die Sendung "Die Wilden": Stücke, die nicht mehr aus den 1920er-Jahren stammen, aber besonders gut zur Ästhetik dieser Zeit passen. Die eine Ausnahme ist eine Komposition von Anton Webern (1883-1945). Es ist das Quartett op. 22 für Klarinette, Violine, Tenorsaxophon und Klavier von Anton Webern aus dem Jahr 1930: ein sehr stark reduziertes, aus bewusst sparsam gesetzten Klängen bestehendes, auch nur fünf bis sieben Minuten langes Stück. Dieses Stück ist wie eine Verdichtung bedeutender Errungenschaften der Kunstmusik in den 1920er-Jahren. Das Tenorsaxophon war damals ganz selten in der klassischen Musik. Der Österreicher Anton Webern war zwar kein Vertreter der Zwanzigerjahre-Ästhetik aus der damals brodelnden Metropole Berlin. Aber die Neuartigkeit des Klangs und vor allem der Einsatz des Saxophons, das damals für das Unorthodoxe und Neue, später auch Verfemte in der Musik stand, machen sein Opus 22 zu einem Werk, das unbedingt in diesen Kontext gehört.
Komponist Friedrich Hollaender | Bildquelle: picture-alliance / dpa | Kurt Rohwedder Die zweite Ausnahme stammt von 1932 (kein Zahlendreher, das stimmt): "Ich weiß nicht, zu wem ich gehöre", ein Lied des Komponisten Friedrich Hollaender – mit einem Text, den der Komponist zusammen mit einem Drehbuchautor schrieb, Robert Liebmann. Es kam in dem UFA-Film "Stürme der Leidenschaft" vor. Dieses Lied ist eine besondere Perle, nicht nur vom Text her, der aus der Sicht einer Frau sich gegen ein Besitzdenken in Beziehungen wendet und ungemein elegant und witzig formuliert ist. Sondern auch von der Musik her. Dieses Stück, das so einfach klingt, steckt voller Raffinement. Der Komponist Friedrich Hollaender hat zum Beispiel genau an der Stelle, an dem das Wort "gehöre" gesungen wird, die Melodie und die dazugehörige Harmonie sozusagen schwerelos gemacht: Der Ton in der Melodie ergibt eine sogenannte hinzugefügte Sexte über der Harmonie. Das ist ein Effekt, der das Gewicht aufhebt – und das ausgerechnet bei einem Wort, das eine Zementierung von Verhältnissen ausdrückt. An einer anderen signifikanten Stelle, dort, wo es heißt "Ja, soll denn so etwas Schönes nur einem gefallen, die Sonne, die Sterne gehören doch auch allen", gleitet die Melodie ganz zart durch verschiedene Tonarten-Sphären. Bei dem Wort "gefallen" klingt sie fragend. Und bei dem Wort "Sterne" öffnet sie auf funkelnde Art einen neuen Raum.
Sängerin Ute Lemper | Bildquelle: Bernd Thissen-dpa Der Komponist Friedrich Hollaender verließ Deutschland 1933, er war jüdischer Abstammung. Er ging zuerst nach Paris, dann 1934 in die USA, wo er bis 1955 blieb. Danach zog er nach München. Ein noch berühmteres Lied von ihm ist eines der bekanntesten deutschsprachigen Lieder der Welt: nämlich "Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt" aus dem 1930 erschienenen Film "Der blaue Engel". "Ich weiß nicht, zu wem ich gehöre" ist in "Jazz und mehr" in einer Aufnahme der deutschen Sängerin Ute Lemper zu hören. Mit ihr können sich lesefreudige Menschen gleich nach der Sendung ausführlicher beschäftigen. Soeben ist ein autobiographisches Buch von ihr erschienen: "Die Zeitreisende: Zwischen Gestern und Morgen", Edition Gräfe und Unzer, 26 Euro. Ute Lemper feiert am 4. Juli 2023 einen runden Geburtstag. In den 1980er Jahren wurde sie weit über Deutschland hinaus als Musical-Stimme und nicht zuletzt als Interpretin der großen Songs von Bertolt Brecht und Kurt Weill gefeiert.
Sendung: "Jazz und mehr" am Samstag, 10. Juni 2023, um 18:05 Uhr auf BR-KLASSIK