Am 5. März 2023 feiert Sergej Prokofjews Oper "Krieg und Frieden" Premiere an der Bayerischen Staatsoper – gut ein Jahr nach dem brutalen Überfall Russlands auf die Ukraine. Ist eine Oper, die Krieg thematisiert und von einem russischen Komponisten stammt, in diesem Kontext unpassend? Ganz und gar nicht, sagt GMD Vladimir Jurowski im BR-KLASSIK-Interview.
Bildquelle: Wilfried Hösl
BR-KLASSIK: In diesen Zeiten eine russische Oper – Prokofjews "Krieg und Frieden" – auf die Bühne zu bringen, ist sicherlich nicht einfach. Gibt es Menschen, die das jetzt im Vorfeld kritisieren?
Vladimir Jurowski: Sicher. Wir haben auch kritische Briefe bekommen – von verschiedenen Stellen, hauptsächlich von ukrainischen. Aber auch bei uns im Haus, an der Bayerischen Staatsoper, gibt es Menschen, die überhaupt nicht verstanden haben, wie man heute so eine Oper machen kann. Und dann sage ich immer: lest Tolstoi. Wenn man das Buch "Krieg und Frieden" gelesen und verstanden hat, dann weiß man, dass es heute wahrscheinlich kein wichtigeres Buch gibt – und kein wichtigeres Thema als das, was Tolstoi in diesem Buch anreißt. Denn er ist alles andere als patriotisch oder nationalistisch gesinnt. Ganz im Gegenteil. Er ist ein Humanist, ein Gegner des Krieges und des sogenannten Patriotismus. In Letzterem sieht er eigentlich nur einen Vorwand, um Menschen zu töten.
BR-KLASSIK: Wenn man sich dieses Buch "Krieg und Frieden" vornimmt, ist es vor allem für deutsche Leserinnen und Leser schwierig, die ganzen Namen auseinanderzuhalten. Ich glaube, schon daran scheitern viele.
Vladimir Jurowski: Es ist nichts anderes, als wenn ein Russe versucht, sich durch die "Buddenbrooks" zu kämpfen. Das haben viele getan. Es gehört einfach zur Weltliteratur. Ich weiß, wir leben in einer sehr schnellen Zeit, wo alles möglichst kurz gefasst werden soll. Deshalb würde ich den Leuten die erste Fassung des Romans ans Herz legen, die ins Deutsche übersetzt wurde. "Krieg und Frieden" in der Urfassung ist nur halb so lang. Und, ein kleiner Spoiler: Einer der Hauptprotagonisten stirbt am Ende nicht, sondern heiratet seine Angebetete.
BR-KLASSIK: Auf welche Roman-Fassung bezieht sich das Libretto von Prokofjews Oper "Krieg und Frieden"?
Vladimir Jurowski: Dem Libretto liegt eine vollständige Fassung zugrunde. Aber wir haben bei unserer Version dann doch einiges gekürzt.
BR-KLASSIK: In welchem Teil haben Sie gekürzt? Im "romantischen" oder im "kriegerischen"?
Unterschrift von Sergej Prokofjew auf der Partitur zu "Krieg und Frieden" | Bildquelle: imago/Leemage
Vladimir Jurowski: Sergej Prokofjew hat sich lange an diesem Roman von Leo Tolstoi versucht. Wäre er so radikal gewesen wie Richard Wagner, dann hätte er wahrscheinlich eine Art Tetralogie daraus gemacht – aus den vier Büchern. Die Endfassung besteht aus zwei Bänden, aber in jedem Band sind zwei Bücher drin. Pro Abend könnte man also einen Teil aufführen. Die Urfassung der Oper, die Prokofjew vor dem Krieg begonnen hat zu schreiben, konzentrierte sich vor allem auf die lyrischen Protagonisten und Szenen. Dann begann der Deutsch-Sowjetische Krieg im Juni 1941 – und Prokofjew spürte natürlich die unvermeidliche Aktualität der Kriegsszenen. Er versuchte sein Werk nochmal umzumünzen. Und dann geriet die Oper ins Fegefeuer der Kritik, vor allem für die zu formale, ungenügende Darstellung der Rolle des Volkes in diesem Krieg. Daraufhin musste er noch eine ganze Szene dazukomponieren.
Prokofjew starb 1953, am selben Tag wie Josef Stalin – ohne seine Oper in der Endfassung auf der Bühne gesehen zu haben. Bis zuletzt hat er versucht, trotz seiner Krankheit daran zu arbeiten. Und er hat immer wieder Vorschläge gemacht, wie man die Oper kürzen kann, um sie an einem Abend spielen zu können. Im Endeffekt ist es ein riesiger Torso, den Prokofjew hinterlassen hat. Und die wenigsten haben sich mit der Urfassung beschäftigt. Deswegen haben wir uns entschlossen, diese Urfassung – zumindest in Teilen – wiederherzustellen.
Wir haben im letzten Jahr sehr mit diesem Stück gerungen.
BR-KLASSIK: Am Ende der Oper gibt es einen heroischen Chor. Verzichten Sie in der Münchner Inszenierung auf den?
Vladimir Jurowski: Wenn ich mich nicht irre, dann ist es das erste Mal seit 1946, dass die Urfassung des Finales gespielt wird – bei uns allerdings ohne Chor. Wir sind – aus bekannten Gründen – mit diesem Stück sehr am Ringen gewesen im Verlauf des letzten Jahres. Und da kam uns die Idee, das Stück wortlos zu beenden. Das heißt, die ganze Musik bleibt erhalten, aber das, was ursprünglich der Chor singt, wird von Blechblasinstrumenten im Orchester vorgetragen. Da erscheint dann eine 24-köpfige Blaskapelle auf der Bühne. Und die hat das letzte Wort. Der Chor, die ganzen Zivilisten, die den Abend über auf der Bühne stehen, sind in dem Moment nur Puppen. Ich verrate Ihnen natürlich nicht, was sie am Ende genau tun. Aber sie sind immer noch da, stumme Zeugen dieses seltsamen, letzten, hohen Liedes auf den Krieg und Patriotismus.
BR-KLASSIK überträgt die Premiere von Sergej Prokofjews Oper "Krieg und Frieden" an der Bayerischen Staatsoper am 5. März ab 17 Uhr im Radio und Videolivestream.
BR-KLASSIK: Sie sagen, die Oper endet wortlos. Bedeutet das in gewisser Weise auch "sprachlos" – angesichts der augenblicklichen Situation?
Dmitri Tcherniakov inszeniert Prokofjews "Krieg und Frieden" an der Bayerischen Staatsoper. | Bildquelle: © dpa / Claudia Esch-Kenkel Vladimir Jurowski: Genauso würde ich das sehen. Es ist quasi unsere Antwort auf die heutige Situation. Überhaupt ist diese ganze Inszenierung unsere Antwort und persönlicher Kommentar, von Regisseur Dmitri Tcherniakov und mir, auf die Ereignisse der letzten 12 Monate. Das Gefühl der eigenen Machtlosigkeit gegenüber diesem Kriegselend ist wirklich tragisch. Mehr als eine Inszenierung können wir dem nicht entgegensetzen. Aber ich habe mir gedacht, das Stück hat wahrscheinlich ca. 75 Jahre, die es existiert, auf diese Inszenierung gewartet – aus genau diesem Anlass. Denn Prokofjew hatte vor dem Krieg angefangen zu schreiben. Beendet hat er es nach dem Krieg. Das heißt, das Stück wurde nie unter Kriegsumständen gespielt, anderes als beispielsweise die siebte Sinfonie von Schostakowitsch. Es kam quasi schon als eine Art Mahnmal hinterher. Und langsam wurde es zu einem Museumsexponat, einem Teil der langen, illustren Reihe der russischen Kunst, die vom Krieg inspiriert wurde. Das Stück blieb in seinem Wesen aber sehr zwiespältig, sehr janusköpfig und widersprüchlich.
Diese Inszenierung ist unsere Antwort auf die Ereignisse der letzten 12 Monate.
Prokofjew war nicht nur ein Humanist, sondern auch ein Opportunist. Das ist offensichtlich. In der Hinsicht ist er vergleichbar mit Richard Strauss. Der ist das deutsche Äquivalent zu Prokofjew. Auch Strauss hat sich den Umständen angepasst und verbogen. Trotzdem entstanden Meisterwerke wie "Capriccio". Aber sie bleiben problematisch und widersprüchlich. Die Kriegssituation heute ist die, dass Russland plötzlich, zum ersten Mal in der jüngsten Geschichte, öffentlich von der ganzen Weltgemeinschaft als Aggressor gesehen wird. Hier wird der Spieß einfach umgedreht: Der überschwängliche Patriotismus der Oper "Krieg und Frieden" ist nicht nur eine Masche, eine Art notwendiges Kostüm, das Prokofjew trägt, um damals akzeptiert zu werden. Seine überschwänglichen Loblieder an das russische Heer, an das russische Volk werden plötzlich zu einer Art Anklageschrift gegen dieselben. So ist das ja manchmal: Wenn man jemanden besonders eifrig lobt, dann kommt das Gegenteil davon heraus.
Das Gefühl der eigenen Machtlosigkeit gegenüber diesem Kriegselend ist wirklich tragisch.
BR-KLASSIK: Hat sich Prokofjew jemals gegen Stalins System gestellt?
Vladimir Jurowski: Im Gegensatz zu Schostakowitsch ist Prokofjew nie in offene Opposition zum System getreten. Er hat nie Stücke gegen das System komponiert. Es gab Stücke, wo man das erahnen könnte, etwa bei der sechsten Symphonie. Es ist eine sehr tragische Symphonie, die gleich nach "Krieg und Frieden" entstanden ist, und berechtigte Fragen aufwirft. Aber in "Krieg und Frieden" versuchte er, ein braver Sowjetbürger zu sein – und natürlich auch ein guter Komponist.
BR-KLASSIK: Haben Sie neben den Proben genug Zeit, die Nachrichten zu verfolgen, die aus Russland kommen? Welche Quellen nutzen Sie?
Vladimir Jurowski: Ich nutze vor allem "Meduza" (russische regierungskritische Nachrichtenseite, die in Russland inzwischen verboten ist und ihren Sitz in Lettland hat, Anm. d. Red.). Im Februar 2022 habe ich die App auf meinem Smartphone installiert. Ich hatte auch ein paar Telegram-Kanäle, die direkt aus der Ukraine Nachrichten liefern. Aber irgendwann konnte ich deswegen nicht mehr schlafen und habe sie gelöscht. Ich benutze eine Quelle. Und wenn etwas Ernsthaftes vorfällt, dann schaue ich Nachrichten oder BBC. Russische Nachrichten lese ich schon seit einem Jahr nicht mehr. Die Nachrichten aus Russland sind alle manipuliert. Das war nicht immer so. In den über 20 Jahren, die Putin jetzt regiert, waren die russischen Medien noch relativ frei – bis vor einem Jahr. Man konnte sich ein eigenes Bild machen aus verschiedenen Quellen. Seit Kriegsbeginn wird aber alles staatlich überwacht.
BR-KLASSIK: In München treffen nun bei der Besetzung der Oper russische und ukrainische Künstler und Künstlerinnen aufeinander.
Vladimir Jurowski: Ja, wir haben hier fast eine ganze Sowjetunion zusammen – wenn man die ehemaligen Republiken betrachtet. Wir haben Vertreter aus der Ukraine, aus Russland, Belarus, Moldawien, Usbekistan, Tadschikistan, Armenien, Litauen... Fragen Sie lieber: Wen haben wir nicht? Aserbaidschan haben wir nicht, Turkmenistan auch nicht, auch keine Georgier. Aber es ist ein wirklich internationaler Cast. Fast alle sind mehrsprachig. Im Probenraum wird Russisch gesprochen, aber auch Deutsch und Englisch, teilweise sogar Italienisch und Französisch wegen unserer Pianisten. Es herrscht jedenfalls eine sehr friedvolle Atmosphäre.
BR-KLASSIK: Wird auch über den Krieg in der Ukraine gesprochen?
Vladimir Jurowski: Eines war von Anfang an klar: Leute, die zu uns kommen, müssen kein Bekenntnis ablegen. Aber alle wissen um meine Einstellung oder die Einstellung von Dmitri Tcherniakov. Und das wird stillschweigend akzeptiert. Entweder wird nicht darüber gesprochen oder unsere Meinung wird geteilt. Außerdem haben wir ja nicht nur zwei Ukrainer im Cast, nämlich Olga Kulchynska und Stanislav Kufluk, sondern auch eine Regie-Hospitantin, die direkt aus Luhansk kommt. Sie ist vor dem Krieg geflohen. Ich spüre im Umgang zwischen diesen Menschen nichts als absolute Herzlichkeit, wir unterstützen einander.
Vladimir Jurowski bereitet für den 24. Februar, den Jahrestag des Kriegsbeginns, einen musikalischen Gruß an die Ukraine vor. | Bildquelle: picture alliance/dpa | Robert Michael Es wird bald einen Prüfstein für uns alle geben: Der 24. Februar naht (Jahrestag des russischen Überfalls auf die Ukraine, Anm. d. Red.). Und an dem Tag wird auch in München einiges passieren. Da bin ich mir sicher. Wir bereiten mit einigen unserer Solistinnen und Solisten einen musikalischen Gruß an die Ukraine vor, den wir vorproduzieren und an dem Tag ins Netz stellen wollen. Der kommt nicht nur von Ukrainerinnen und Ukrainern – auch ich bin ja Vertreter beider Nationen, von Russland und Ukraine – sondern auch von einigen anderen. Da wirken alle mit.
BR-KLASSIK: Wie ist denn Ihre Einschätzung bezüglich der russischen Bevölkerung? Akzeptieren die Menschen die Situation einfach?
Vladimir Jurowski: Natürlich nicht. Ich halte nach wie vor Kontakt zu sehr vielen Freunden, auch zu meinem ehemaligen Orchester in Russland. Mit einigen Musikern befinde ich mich im schriftlichen Austausch. Alle erleben die Situation als sehr schmerzlich. Manche empfinden dabei aber auch eine persönliche Mitschuld an dem Ganzen. Für die ist das eine echte Tragödie. Die anderen betrachten das eher als Missverständnis, das sich im Laufe der Zeit irgendwie klären wird.
BR-KLASSIK: Die verstehen den russischen Überfall auf die Ukraine als Missverständnis?
Vladimir Jurowski: Nein, aber die westliche Reaktion darauf. Es gibt leider sehr viele Menschen, die die Handlungen ihrer Regierung gar nicht hinterfragen. Das sind aber immer noch Menschen, keine Fanatiker, keine Faschisten. Solche gibt es auch, aber mit denen habe ich nichts zu tun, habe ich nie etwas zu tun gehabt. Seit dem 24. Februar 2022 ist die Welt nicht mehr dieselbe. Man entdeckt unter seinen Nächsten, unter seinen Verwandten und engen Freunden plötzlich Menschen, die unter dem Vorwand des Sich-nicht-in-die-Politik-einmischen-Wollens solche Gräueltaten stillschweigend akzeptieren, beziehungsweise die Vogel-Strauss-Politik betreiben. Das tut mir persönlich sehr weh, weil ich diese Menschen nach wie vor sehr liebe. Es geht nicht darum, wer im Recht ist. Aber das Recht ist auf der Seite derer, die den Krieg verurteilen. Es gibt ja auch eine weit verbreitete Haltung zu diesem Krieg unter der russischen Bevölkerung: "Ja, der Krieg ist schlimm, keine Frage. Aber so eindeutig ist das alles nicht". Und der Westen trage auch eine erhebliche Mitschuld an dem, was passiert ist. Und die Ukraine sowieso, also die gegenwärtige ukrainische Regierung.
Es gibt leider sehr viele Menschen, die die Handlungen ihrer Regierung gar nicht hinterfragen. Das sind aber immer noch Menschen, keine Fanatiker, keine Faschisten.
BR-KLASSIK: Können Sie diese Haltung nachvollziehen?
Vladimir Jurowski: Spätestens seit der Zerstörung von Butscha gibt es nichts mehr zu diskutieren. | Bildquelle: dpa-Bildfunk/Efrem Lukatsky Vladimir Jurowski: Ich würde sagen: Bevor die Bilder aus Butscha öffentlich wurden, konnte man darüber vielleicht noch diskutieren. Aber spätestens ab dem Zeitpunkt, wo die ersten Bilder von den Raketenattacken auf Wohngebiete erschienen sind, nicht mehr. Es mag ja sein, dass die Russen wirklich auf die sogenannten kritischen Energieinfrastrukturen zielen. Aber dafür benutzen sie die alten sowjetischen Landkarten. Und es interessiert sie einen Scheißdreck, ob da jetzt zufälligerweise Menschen wohnen, ob da ein Krankenhaus steht, eine Kindertagesstätte oder was auch immer. Es ist einfach unmenschlich. Das hat ein faschistoides Ausmaß erreicht. Und zwar nicht von fanatischer Besessenheit, sondern absoluter Gleichgültigkeit. Ich sage es mal so: Wenn man die Geschichte des Holocaust studiert, dann sind es weniger die fanatischen Nazi-Aufmärsche, die so erschrecken. Es sind vielmehr die ganzen grauen, überhaupt nicht gefährlich aussehenden Männlein in Anzügen, die ihre tägliche bürokratische Arbeit an der "Endlösung der Judenfrage" verrichten. Die machen einem Angst. Und das ist genau das, was die Spitze des russischen Militärs und die Regierung da betreibt.
BR-KLASSIK: Und wie ist das für die russische Bevölkerung?
Vladimir Jurowski: Man muss bedenken, wer da alles an die Front geschickt wird. Zum Beispiel einer unserer Sänger hat jetzt seinen, ich glaube, 18-jährigen Neffen im Sarg zurückbekommen. Der Junge war einberufen worden, und das, was von ihm übrig blieb, kam zurück. Es ist jetzt völlig egal, ob seine Familie für den Krieg war oder dagegen. Was hat der Junge damit zu tun? Er ist 18. Wie kann man so etwas tun? Es ist wirklich ein ganz schlimmer Albtraum seit einem Jahr. Und man meint immer, man müsste irgendwann aufwachen und dann ist es vorbei. Wir sind alle nicht mitschuldig, aber mitverantwortlich – für die Blauäugigkeit und Naivität, mit der wir die Annexion der Krim damals abgetan haben. Die Ukrainer haben schon vor acht Jahren gesagt: Es wird nicht dabei bleiben. Es wird einen Krieg geben. Und wir haben alle gesagt: Kommt, so verrückt wird er (Wladimir Putin, Anm. d. Red.) nicht sein. Ich selbst habe am Tag vor dem Kriegsausbruch meine noch Freunde beruhigt und gesagt: Es wird keinen Krieg geben. Ich war bis zuletzt davon überzeugt, dass alles nur ein Bluff ist. Gottseidank war ich mit meiner Naivität nicht in einer verantwortlichen Position.
Wir sind alle nicht mitschuldig, aber mitverantwortlich.
BR-KLASSIK: Wie blicken Sie jetzt auf Ihre Arbeit in Russland?
Vladimir Jurowski war bis 2021 Künstlerischer Leiter des Swetlanow Sinfonieorchesters in Russland. | Bildquelle: Bayerische Staatsoper/Simon Pauly Vladimir Jurowski: Ich habe nur eine einzige verantwortliche Position in Russland innegehabt. Die hatte ich aber bereits im Juli 2021 niedergelegt – aus Überzeugung, dass es an der Zeit ist, das Land erstmal zu verlassen, vielleicht als Gast mal wiederzukommen, aber nicht mehr so eng und intensiv dort zu arbeiten. Ich habe natürlich auch nicht geahnt, dass so etwas wie Krieg kommen würde. Ich habe einen deutschen Pass, keinen russischen. Aber ich hatte noch ein offenes Visum. Und ich hätte letztes Jahr im Juni, Juli dort erscheinen sollen, um Konzerte zu geben. Nach dem 24. Februar war mir natürlich klar, dass es kein Wiederkommen geben wird, keine Konzerte. Interessant war, dass die dortige Philharmonische Gesellschaft die Konzerte mit mir aber auch nicht öffentlich absagen wollte. Dabei wussten alle, dass ich die ukrainische Hymne mehrfach gespielt und was ich alles in der Presse zum Krieg gesagt habe. Aber sie haben es ignoriert.
BR-KLASSIK: Und wie ging es dann weiter?
Vladimir Jurowski: Im letzten Moment hieß es: Es gibt Schäden am Dach der Philharmonie. Sie schließen die Philharmonie über den Sommer. Und dann wurden alle Konzerte gestrichen. Das war geschickt. Sie wollten halt einfach keinen Skandal. So viele Künstler haben einer nach dem anderen abgesagt. Neulich habe ich festgestellt, dass mein Name auf der, ich glaube, 89. Stelle auf der schwarzen Liste der Roskomnadsor (russische Medienaufsichtsbehörde, Anm. d. Red.) steht. Da sind auch viele andere Künstler, wenn auch nicht so viele aus der klassischen Musikwelt. Ich glaube, Wassili Petrenko ist auch auf der Liste. Unser Regisseur Tscherniakov wird nach dieser Inszenierung vermutlich auch auf diese Liste kommen.
BR-KLASSIK: Wir sprechen über "Krieg und Frieden". Haben Sie eine Idee vom Frieden?
Vladimir Jurowski: Bei Frieden ist die einzige Idee, dass es ihn immer geben sollte. Aber es ist traurige Gewissheit, dass es in den letzten 200 Jahren zusammengezählt, glaube ich, nur etwa 34 Tage Frieden auf der Welt gegeben hat. Es ist bis jetzt leider ein Phantombild, ein Wunsch. Wir Menschen haben einen Fehler in unserem System. Wir führen immer wieder Krieg und beteuern jedes Mal danach: Das war der letzte Krieg. Und dann ist vielleicht für 30, 40 Jahre Frieden, bevor es woanders wieder anfängt. Kriege hat es immer gegeben. Und es wird sie auch immer geben – solange es die Menschheit gibt. Vielleicht sollte man in der Zukunft tatsächlich alle Regierungen mit weiblichen Mitgliedern besetzen. Vielleicht wird es dann keine Kriege mehr geben. Ich weiß es nicht. Aber zumindest wissen Frauen, was es heißt, menschliches Leben zu schenken. Sie werden sich drei Mal überlegen, ob sie ein menschliches Leben nehmen oder nehmen lassen.
Kommentare (4)
Donnerstag, 23.Februar, 11:11 Uhr
Ina Igel
Tolstoi
Ich kenne ein großes Land, in dem Erwachsene und Kinder Tolstoi lesen. Sie lesen und studieren seine Werke in Schulen, Universitäten, in der U-Bahn, in Bibliotheken und zu Hause. Aber das hilft diesem Land in keiner Weise.
Donnerstag, 23.Februar, 10:00 Uhr
Beate Schwärzler
"Krieg und Frieden". F r i e d e n ?
Man darf gespannt sein.
Etwas ratlos gelassen hat mich die Passage im Interview mit Vladimir Jurowski,
in der er von der 24-köpfigen Blaskapelle spricht, die am Ende aufmarschiert und spielt.
"Der Chor, die ganzen Zivilisten... nur Puppen. ...
...stumme Zeugen dieses seltsamen, letzten, hohen Liedes auf Krieg und Patriotismus."
Ich denke, g e n a u hinh ö r e n, g e n a u hins e h e n ist gefragt.
Wie gesagt: Man darf gespannt sein.
Mittwoch, 22.Februar, 20:00 Uhr
Link Cornelia
Jurowski
Betroffenheit, Verletzlichkeit, Ratlosigkeit- eine ehrliche und sensible Stellungnahme ohne die üblichen Lösungsvorschläge.Danke!
Mittwoch, 22.Februar, 14:34 Uhr
Rüdiger
Rabulistisches Talent
Jurowski legt sich alles so zurecht, wie es ihm gerade passt.
Der Patriotismus spielt bei Tolstoi keineswegs nur eine negative Rolle, wie es Jurowski suggeriert. Und wenn der Patriotismus angeblich grundsätzlich so schlecht ist, ist auch der Patriotismus der Ukrainer, an den ja Zelensky und auch unsere Kriegstreiber andauernd appellieren, plötztlich auch schlecht? Auch wird man nicht ganz schlau aus all der wortreichen Politisiererei. Nur dass Jurowski Putin nicht mag, wird klar.
Aber von der ganzen dummen Politik mal abgesehen: Bleibt zu hoffen, dass der Regisseur den Stoff nicht so arg verhunzt wie im vergangenen Jahr Wagners "Ring" in Berlin. Ein neuer Flop an der BSO würde diese Saison ja gänzlich verhageln.