Gabriel Fauré war ein stiller Zeitgenosse. Zurückhaltend, bescheiden, ohne große Ambitionen. Fast gegen seinen Willen hat man ihn zum Idol der Belle Époque gemacht. Von deren Zauber kündet heute noch Faurés Musik – in ihrem Schillern, ihrem sanften Schweben zwischen den Welten, ihrer gebändigten Melancholie. Vor hundert Jahren ist Gabriel Fauré gestorben.
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"Ich fühle, dass ich schrecklich altere, und ich bedaure, nicht früher befreit worden zu sein." Das schreibt Gabriel Fauré im Januar 1922 an einen Freund. Befreit wovon? Fauré ist klar geworden, dass er seine beste Zeit dem Pariser Conservatoire geopfert hat statt seinem eigenen Schaffen. Mit 60 erst ist er Direktor dieser verstaubten Institution geworden, hat all seine Kraft dafür aufgewendet, diese reaktionäre Ausbildungsstätte zu reformieren. Im Oktober 1920 reicht er seinen Rücktritt ein – es geht nicht mehr. Immer wieder werfen ihn Zahnprobleme, grippale Infekte und Lungenentzündungen aufs Krankenlager, seine Schwerhörigkeit hat sich dramatisch verschlimmert und isoliert ihn zusehends von der Außenwelt. Jetzt, mit 76 Jahren, ist er völlig ertaubt.
Von Freunden wird Fauré nach Nizza eingeladen, in eine herrliche Villa an der Promenade des Anglais, doch den Aufenthalt dort kann er nicht genießen. Er fühlt sich nutzlos: "Ich muss zugeben, dass ich das Leben einer Kellerassel führe, und ich schäme mich dafür. Ich mache nichts, gar nichts, und ich habe, seit ich in Nizza bin, noch keine zwei Noten Musik gefunden, die es wert wären, zu Papier gebracht zu werden." (Gabriel Fauré in einem Brief an seine Frau am 4. März 1922)
Und dabei hat Fauré immer am liebsten in schöner Umgebung komponiert: bei einer befreundeten Familie in Sainte-Adresse bei Le Havre oder im kleinen Dorf Annecy-le-Vieux in Savoyen. Auch dort wohnen Bekannte, in einem komfortablen Haus, und Fauré blickt von seinem Zimmer im ersten Stock in den mit Bäumen und Rosen bepflanzten Garten. Und in der Ferne glitzert der See. Einfangen wird er diese Sommerstimmung in seinem Liedzyklus "Mirages".
Fauré kommt aus dem Süden Frankreichs, aus Pamiers, 70 Kilometer südlich von Toulouse, nicht weit von Carcassonne. Dort wird er am 12. Mai 1845 geboren. Sein Vater ist Schulleiter, und Gabriel, als jüngstes von sechs Kindern, läuft halt so mit. Er ist ein verträumter, stiller Bub, der nie aufbegehrt, sich nie wichtigmacht. Aber dass er sich mit nicht einmal fünf Jahren für das Harmonium der örtlichen Kapelle interessiert, fällt dann doch auf. Kein Zweifel: das musikalisch hochbegabte Kind ist ein Fall für die berühmte Kirchenmusikschule von Louis Niedermeyer in Paris. Die Beschäftigung mit alter Musik prägt ihn – und wie kreativ er auf Grundlage dieser strengen Ausbildung in Kontrapunkt und klassischer Harmonielehre werden kann, zeigt ihm sein Lehrer und Mentor Camille Saint-Saens, der ihm ein Leben lang ein Freund bleiben wird. Und schon haben wir die schwer zu fassende Musiksprache des Gabriel Fauré zumindest eingekreist: klassizistisch streng in der Form, aber mit herrlich sich verströmenden Melodien, die nie vordergründig jubilieren, sondern ihre Schönheit immer leicht verschattet preisgeben. Und uns in eine andere Welt tragen. Das ist auch Faurés Ziel:
Die Musik hat für mich die Aufgabe, uns so weit wie möglich über die Wirklichkeit hinauszuheben.
In Faurés Musik verliert selbst der Tod seinen Schrecken: in seinem Requiem versagt sich der Komponist die Horrorvisionen des "Dies Irae", zieht dem Jüngsten Gericht gleichsam den Stachel. Von "durchweg sanfter Stimmung" sollte seine Totenmesse sein; Eskapismus mit einer großen Portion Trost. Sanft zu bleiben in seiner Musik, ohne je langweilig oder belanglos zu werden – diese Aufgabe hat Gabriel Fauré bravourös gelöst. Er ist ein "Stimmungsmacher" im besten Sinn – ein Virtuose des (Zitat Saint-Saens) "parfümfreien Charmes" und der "gebändigten Melancholie". Und dazu ein Meister der sanft schwebenden Zwischentöne. Kein Wunder, dass ihn die fast lautlose Welt von Pelléas und Mélisande fasziniert. Dem unglücklichen Paar widmet er eine seiner schönsten und geheimnisvollsten Musiken. Geradezu "skandalös sanft" (wie ein Musikkritiker schrieb) wird er in seinem Liederzyklus "La bonne chanson", den er einer Bankiersgattin in amouröser Verbundenheit widmet. Sie wird später eine Liaison mit Claude Debussy eingehen, einem Kompositionsschüler von Fauré.
Bildquelle: Archiv des BR Mit seinen vielen Liedern (oft auf Texte von Paul Verlaine oder auch Victor Hugo) wird Fauré zum Liebling der Pariser Salons und zum Idol der Belle Époque. Die große Bühne war nie sein Ziel – und so suchen wir in seinem Werkkatalog vergeblich nach einer Sinfonie. Zwei Opern immerhin finden sich: Dramen über Prometheus und über Penelope. Dem in Paris grassierenden "Wagnérisme" steht Fauré distanziert gegenüber – auch wenn er nach Köln, München und wiederholt nach Bayreuth reist, um sich fast den gesamten Wagner zu geben. Sein kühles Urteil: "So sehr ich mich gerne vor den 'Meistersingern' und der 'Tetralogie' verneige, so sehr missfällt mir 'Tristan'".
Seine eigene Karriere treibt Fauré nicht gerade mit Schwung voran. Viele Jahre fristet er in Paris als Kapellmeister und Organist (immerhin an der renommierten Madeleine-Kirche) ein finanziell nicht sehr ertragreiches Dasein. Ein Zubrot verdient er sich als Musiklehrer. Er ist ein eher genügsamer Mensch - und Klinkenputzen ist einfach nicht seine Art. Doch immer wieder kann er sich auf seine Freunde und Gönner verlassen: auf die Mezzosopranistin Pauline Viardot, die seine Lieder singt und die Werbetrommel für den jungen Komponisten rührt. Auch Marcel Proust verliebt sich in Faurés Musik – und ein bisschen in ihren Schöpfer. Der Komponist Vinteuil in Prousts Jahrhundertroman "A la recherche du temps perdu" ist vermutlich ein Fauré-Portrait.
Im Alter wird sich Fauré ein bisschen ärgern über seine Laschheit in manchen Belangen. Aber er muss sich nichts vorwerfen. Es freut ihn, dass er nie aus der Mode gekommen und die Zeit nicht über ihn hinweggegangen ist. Und vor allem: dass er sich mit der jungen Generation so gut versteht. Und sie sich mit ihm. Jacques Thibaud, Pierre Fournier, Robert Casadesus – sie (und viele mehr) werden seine Musik in die Welt tragen.
1923 schreibt Gabriel Fauré, schon völlig ertaubt, sein Klaviertrio h-Moll. Im September 1924 erscheint sein allerletztes Werk, das Streichquartett e-Moll, op. 121. Immer wieder fährt er in diesen beiden Jahren in sein geliebtes Annecy-le-Vieux. Und wenn er seiner Frau in einem Brief die Atmosphäre dieses Zauberorts beschreibt, meint man, er beschreibe seine eigene Musik: "Ich glaube nicht, die Natur jemals so schön und schillernd gesehen zu haben. Gegen sechs Uhr abends gibt es hier einen Lichteffekt von einer tief bewegenden Schönheit, der sich über einen unendlichen Raum ausbreitet."
Am frühen Morgen des 4. November 1924 stirbt Gabriel Fauré mit 79 Jahren im Kreis seiner Familie. Vier Tage später, beim Abschied in der Église de la Madeleine, hält Nadja Boulanger, Faurés ehemalige Schülerin, die Trauerrede; und dann erklingt sein Requiem. Gabriel Fauré ruht auf dem Cimetière de Passy, im 16. Arrondissement von Paris.