Großartige Sängerinnen und Sänger sowie Simone Young am Pult machen György Kurtágs "Fin de Partie" in einer behutsamen Inszenierung von Herbert Fritsch an der Wiener Staatsoper zum Ereignis.
Bildquelle: Sofia Vargaiová
Wie heißt es bei Loriot einmal so schön? "Das geht natürlich nicht so glatt ins Ohr wie Peter Alexander." Stimmt. Und doch ging man aus der Premiere von György Kurtágs "Fin de Partie", nach gut 100 pausenlosen Minuten, durchaus beschwingt nach Hause. Und sogar gut unterhalten.
Was man gesehen hat? Einen windschiefen Innenraum, der im Laufe des Abends schwankend aus den Fugen gerät. Einen schwadronierenden Alten im Rollstuhl mit seinem komischen Diener, sowie ein Greisenpaar in Mülltonnen. Was man gehört hat? Vor allem lange Monologe. Und ein Kaleidoskop an Klängen und Farben, ein Musikpuzzle, wie mit der Pinzette angeordnet. Nicht zuletzt aber: grandiose Sängerdarsteller und ein funkelndes Orchester.
Bildquelle: Michael Pöhn Ein Jahr nach György Ligetis "Le grand Macabre", in dem gleichfalls ein vermeintliches, angekündigtes Ende im Mittelpunkt steht, auch das nach einer Vorlage aus dem Theater des Absurden, spielt die Wiener Staatsoper nun das bislang einzige Opernwerk jenes anderen großen ungarischen Komponisten der Nachkriegszeit, der der Musikgeschichte ebenfalls seinen Stempel aufgedrückt hat: des mittlerweile 98-jährigen György Kurtág. Worum es in Samuel Becketts "Fin de Partie" geht? Darüber haben sich seit der Uraufführung des Dramas 1957 in London als "Endgame" (deutsche Fassung: "Endspiel"), schon unzählige Menschen gründlich und ausführlich den Kopf zerbrochen, von Theodor Adorno über Scharen von Literaturkundlern und Theaterwissenschafterinnen bis hin zum mehr oder minder "herkömmlichen" Publikum. Diese Art von Rätsel – oder besser: Interpretationsauftrag an alle – gehört wesentlich mit zum Theater des Absurden.
Es muss etwas geschehen sein. Die Handlung spielt in einem Raum, der Schutz vor einer undefinierten Katastrophe draußen bietet. Der Hausherr Hamm ist blind und sitzt im Rollstuhl, mit seinem Diener Clov ist er in gegenseitiger Abhängigkeit verbunden. Und dann sind da noch Hamms Eltern, die in weitgehend vergnügter Infantilität vor sich hin modern, beide in ihrer eigenen Mülltonne steckend. Vom Ende wird geredet und von vielem anderen auch. Das Ende tritt aber nicht ein – oder es ist schon lange da.
Kurtágs "Fin de Partie", uraufgeführt 2018 an der Mailänder Scala, ist eine Literaturoper im historischen Sinne. Das heißt, Becketts Drama mag rigoros gekürzt sein, es wird vom Komponisten aber dennoch als gleichsam heiliger Text behandelt. Und dieses Spiel vom Ende mit Schrecken oder vom Schrecken ohne Ende passt hervorragend zu Kurtágs Kompositionsmethode. In seiner Musik ist Kurtág nämlich immer schon von kleinsten Partikeln ausgegangen. Wie vielleicht kein anderer hat er immer wieder ganz wenige Töne mit erheblicher Bedeutung aufzuladen gewusst – und Gesten und Grimassen, Gebärden und Gefühle in Klänge übersetzt. Mit der kompletten Musikgeschichte im Rücken.
Das heißt, dort wo bei Beckett die Sinnzusammenhänge längst in Fragmente zerbröselt sind, behauptet auch Kurtág nicht plötzlich den großen, durchgehenden Erzählzusammenhang als gleichsam allwissender, souverän über den Wolken schwebender Komponist. Das wäre für ihn wohl ein Verrat am Original gewesen. Stattdessen komponiert Kurtág höchst geschmeidige Sprachmelodien, die auf dem Papier mit unzähligen Taktwechseln extrem kompliziert aussehen – und es auch sind. Aber nur deshalb, weil sich der natürliche Vortragsduktus in jener Genauigkeit, die Kurtág vorschwebt, kaum je in ein herkömmliches Eins-zwei, Eins-zwei-drei zwängen lässt: Da ist dann schon ein ständig wechselnder Wurzel-aus-sieben-Sechzehnteltakt oder dergleichen nötig.
Bildquelle: Sofia Vargaiová Und diese Sprachmelodien kleidet der Komponist dann auf seine typische Weise aus, er deutet den Text und malt seine Stimmungen – mit einer enorm breiten Farbpalette, die er immer wieder neu abmischt, dabei aber die großen Kleckse und dicken Flächen fast vollständig vermeidet. Der Graben ist also rappelvoll, aber zumeist ist alles höchst luftig und duftig, zart und leise gesetzt. Hier näselt ein hohes Fagott, da bilden die Streicher einen ätherischen Dunstschleier, dort erklingt ein Flötentupfer, drüben grundelt die Tuba. Dann und wann gespenstische Oktavparallelen in weitem Abstand.
Eine Melodiefloskel leuchtet immer wieder aus dem Pointillismus heraus, mich erinnerte sie ans "Gott erhalte", sie mag aber auch ganz anderer Herkunft und mit anderem Sinn und Hintersinn eingesetzt sein. Das Spezialkolorit nicht zu vergessen: Cimbalom für die Prise ungarischen Paprika, außerdem zwei Bajans, Knopfharmonikas der osteuropäischen Tradition. Dabei rückt das Klangbild immer wieder auch in die Nähe von Zirkus und Varieté. In solchen und vielen anderen Momenten spürt man, dass Kurtág der Schalk im Nacken sitzt. Und hin und wieder fragt man sich, ob dieser oder jener Knarzer nun zur Musik gehört hat oder ob man ihn gedanklich ausblenden sollte, weil er zum Beispiel nur durch das Einstecken der Dämpfer in die Trompetentrichter entstanden ist... Das ist, wenn man so will, Impressionismus höherer Ordnung, quecksilbrig wechselnd, mit vielen Pausen durchsetzt. Erst im sich aufbäumenden, aber dann verlöschenden Epilog erlaubt sich Kurtág eine Art Resümee. Am Schluss steht ein Fade-out – und ein finaler Tamtam-Schlag, das alte Symbol für den Tod.
Jedenfalls: Wer dem Text mittels Titelanlage genau folgt und wer vielleicht auch noch das Glück hat, von seinem Platz aus Simone Young am Dirigentinnenpult zusehen zu können, der hat alle Ohren voll zu tun und gar nicht die Chance auf Langeweile. Denn wie Philippe Sly mit seinem schlanken, aber tragfähigen Bassbariton die kapitalen Monologe des Hamm mit Nuancenreichtum und nie nachlassender Spannung erfüllt, kann man nur grandios nennen. Hier trägt auch Herbert Fritschs Inszenierung und Ausstattung behutsam zur Gesamtwirkung bei. Denn wer befürchtet hatte, der Regisseur würde den Abend in übertriebener, unzulässiger Weise verulken, durfte sich eines Besseren belehrt sehen. Kein mit Hintergrundaktion bekämpfter Horror vacui angesichts gesungener Leitartikel, sondern weit reichendes Vertrauen in die Stärke von Musik, Darstellung und Vortrag: Das tut wohl.
Bildquelle: Michael Pöhn Die anderen sind vergleichsweise Episodisten. Aber ein Georg Nigl weiß als vokal sowohl feinzeichnender wie durchsetzungsfreudiger Clov eine spezielle Komödiantik zu entwickeln, deren Ingredienzien von der Physical Comedy der Stummfilmära bis hin zum guten alten "Fledermaus"-Frosch reichen, wenn er bei jedem Abgang die Tür zu verfehlen droht. Schmunzeln darf man auch, wenn sich zwischen dem agilen Nigl und Sly, herbeigeführt durch einen speerartigen Bootshaken, so etwas wie die Parodie auf eine Szene zwischen Loge und Wotan entwickelt.
Und auch aus den Mülltonnen dringt pure Qualität: Charles Workman färbt als Nagg seinen Tenor in Richtung Altherrenklang, ohne die Tragfähigkeit einzubüßen, und Hilary Summers, die als einzige in der Besetzung schon bei der Uraufführung dabei war, erheitert als Nell mit ihrer teilweise fast tenoralen Stimmfarbe und beeindruckt mit fadenfein ausgesponnenen Kantilenen. Man hört wieder einmal, dass Kurtág keineswegs spröde für Stimmen komponiert, sondern ungemein gestisch.
Und dann eben Simone Young: Famos, wie souverän sie das Staatsopernorchester durch die komplizierte Partitur führt – und wie sie es offenbar auch so weit motiviert hat, der endlosen und endlos schillernden Kurtág'schen Miniaturenkette die jeweils beabsichtigte, liebevolle Klangsinnlichkeit angedeihen zu lassen. Man kann sich nicht nur die Leistung der Protagonisten, sondern auch jene des Orchesters von der Schwierigkeit her vielleicht wie einen Intensivkurs in Ungarisch als Fremdsprache vorstellen, bei dessen Abschlussprüfung man nicht ein bisschen Smalltalk zu führen, sondern sich selbst vor Gericht zu verteidigen hat. Das Wiener Plädoyer für "Fin de Partie" ist jedenfalls gut gegangen: große Begeisterung für alle. Schade, dass György Kurtág es aus gesundheitlichen Gründen nicht persönlich miterleben konnte.
Sendung: Allegro am 17. Oktober 2024 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK
Kommentare (0)