Bei der Wiederaufnahme von Wagners "Tannhäuser" in der Inszenierung von Tobias Kratzer übernimmt heuer Nathalie Stutzmann die musikalische Leitung. Sie ist damit – nach Oksana Lyniv – die erst zweite Dirigentin in Bayreuth. Wie es sich anfühlt, im legendären Graben zu stehen – und warum es hier keine Egospielchen gibt, erzählt sie im BR-KLASSIK-Interview.
Bildquelle: Simon Fowler
BR-KLASSIK: "Auf der Bühne" und "unten im Graben" – das sind zwei unterschiedliche Welten, die in der Oper zusammenfinden müssen. Sie, Nathalie Stutzmann, kennen beide Perspektiven: Denn Sie sind sowohl Sängerin als auch Dirigentin. Hier in Bayreuth dirigieren Sie dieses Jahr erstmalig den "Tannhäuser". Wie anders empfinden Sie diesen "gedeckelten Graben" im Vergleich zu anderen Opernhäusern?
Nathalie Stutzmann: Dieser Graben ist einzigartig, das ist ja weltweit bekannt! Und ich kann es wirklich nur bestätigen: Er klingt wie kein zweiter! Er ist sehr heikel: Einmal die Art seines Klangs; dann, dass man sich am Pult nicht auf das verlassen kann, was man dort hört, sondern sich vielmehr auf seinen Assistenten verlassen muss. Das funktioniert also nur als Gemeinschaftsprojekt mit Menschen, die für einen im Saal sitzen. Aber es gefällt mir, hier zu dirigieren. Ich war im Vorfeld ziemlich besorgt, was mich hier erwarten würde. Und ich befürchtete schon, ich würde es schrecklich finden – aber stattdessen macht es mir wirklich Spaß!
Man muss sich ganz schön ins Zeug legen, um den Klang zu kriegen, den man möchte.
BR-KLASSIK: "Mystischer Abgrund" – so hat Wagner selbst diese Konstruktion des Grabens mit einer Art Deckel beschrieben, der den Orchesterklang auf die Bühne wirft. Wie schaffen Sie es, das Orchester ausgewogen zu registrieren, damit die Sängerinnen und Sänger oben auf der Bühne gut über die Rampe kommen?
Nathalie Stutzmann: Zuerst ist da mal der Fakt, dass auch die Akustik im Festspielhaus sehr besonders ist! Die Sänger können hier flüstern und müssen nicht die ganze Zeit laut singen und trotzdem hört man sie. Jedenfalls hatten wir keine großen Balance-Probleme mit ihnen. Irgendwie scheine ich das instinktiv gut im Griff zu haben. Allerdings bin ich hier in Bayreuth wirklich auch viel zu den Kollegen in deren Proben gegangen und habe im Saal zugehört. Die Akustik hier ist so anders und speziell. Je mehr Sie hier hören, umso mehr können Sie sich auch vorstellen, was Sie unten im Graben machen müssen, damit es so oder so klingt.
BR-KLASSIK überträgt den "Tannhäuser" live aus dem Bayreuther Festspielhaus: am Freitag, 28. Juli 2023, ab 15:57 Uhr. In der Pause nach dem 1. Akt können Sie das gesamte Interview hören.
Bildquelle: Nathalie Stutzmann / Simon Fowler u.a. Aber man muss sich ganz schön ins Zeug legen, um den Klang zu kriegen, den man möchte, etwa wenn man etwas besonders klar artikulieren will, damit es klar und transparent klingt. Alles klingt im Saal viel softer als man meint. Sie sehen die Musiker, wie sie sich dafür ins Zeug legen. Und unten klingt es auch genauso, wie sie es haben wollen. Und dann fragen Sie nach draußen – aber im Saal kommt davon offensichtlich so gut wie nichts an... Sie müssen also alles betonen: Die Dynamik, die Artikulation, die Farben, die Flexibilität der Farben, die Harmonien, die Stimmen, die Gegenstimmen … daran habe ich wirklich viel gearbeitet während der Proben. Da ich selbst lange gesungen habe, hat mir das natürlich geholfen, die Probleme meiner Sängerfreunde zu verstehen. Und natürlich tue ich alles, um sie oben auf der Bühne zu unterstützen und ihnen zu helfen. Das ist alles wirklich ganz schön herausfordernd. Aber es entsteht auch eine wunderbare Atmosphäre, weil Sie ausschließlich mit Menschen Musik machen, die nur da sind, weil sie Wagner wirklich lieben!
BR-KLASSIK: Heißt das auch, dass Sie wirklich übertreiben müssen, um den Effekt zu erzielen, den Sie sich im Raum vorstellen?
Nathalie Stutzmann: Zunächst mal müssen Sie eine genaue Vorstellung davon haben, was Sie eigentlich hören wollen. Das habe ich mit meinem Assistenten genau abgestimmt. Ich habe ihm ganz genau gesagt, was ich an jeweils welcher Stelle erreichen möchte. So konnte er das überprüfen und mich dann sozusagen leiten, damit ich genau diese Effekte erziele.
BR-KLASSIK: Sie haben schon beschrieben, wie Sie das Orchester im Graben hören. Aber wie hören Sie denn dort die Sängerinnen und Sänger?
Nathalie Stutzmann: Manchmal so gut wie gar nicht, je nachdem, wo sie stehen. Das ist wirklich heikel! Wenn sie weit hinten stehen oder in einem großen Ensemble, wenn auch das Orchester ordentlich zu tun hat und mezzoforte oder forte spielt, dann ist es manchmal echt schwer, überhaupt noch was von den Sängern mitzukriegen.
Die Sänger müssen auf Wagners musikalischem Fundament sozusagen 'fliegen' oder 'fließen'.
BR-KLASSIK: Verunsichert Sie das nicht …?
Bildquelle: Brice Toul Nathalie Stutzmann: Na klar! Zuerst denken Sie natürlich, dass das Orchester zu laut ist. Dann fragen Sie den Assistenten. Dann befürchten Sie, sie könnten nicht zusammen sein. Aber dann gibt es noch was anderes, das sehr wichtig ist bei Wagner (und weshalb ich mich als Dirigentin auch sehr mit Wagner beschäftigt habe und ihn bewundere): Und das ist der Fakt, dass sich alles auf die Musik bezieht. Es geht nicht in erster Linie um die Gesangsstimme. Alles, was er vorhat, vermittelt sich durch das Orchester. Sie könnten die Musik ganz ohne Sänger aufführen und würden doch spüren, was er musikalisch will. Alles steckt im Orchesterpart. Und auf diesem musikalischen Fundament müssen die Sänger sozusagen "fliegen" oder "fließen". Das ist das Gegenteil von Belcanto, wo sie als Dirigent auf die Sänger hören und sie begleiten. Hier aber hat das nichts mit Begleiten zu tun. Sie schaffen sozusagen die musikalische Basis, auf der sich alles bewegt: Sie bereiten den Boden, damit die Sänger mit Spaß darauf abheben können.
BR-KLASSIK: Das werden Sie sich als Sängerin natürlich gut vorstellen und auch vermitteln können. Aber wie nah ist Ihnen als Französin denn dieses deutsche Repertoire mit dieser ja auch etwas speziellen Sprache?
Nathalie Stutzmann: Ich spreche Deutsch, und ich habe ja auch deutsche Wurzeln, wie man an meinem Namen unschwer erkennen kann. Meine Familie kam ursprünglich aus der deutschsprachigen Schweiz und aus Münster, aber sie zogen dann ins Elsass. Ich habe sozusagen deutsches Blut in mir. Ich verstehe eigentlich alles. Und natürlich habe ich mich auch sehr mit diesem Text beschäftigt. Und überhaupt: Als Sängerin habe ich ja schon alle möglichen deutschen Lieder gesungen – das war mein Hauptrepertoire. Deshalb ist Deutsch für mich natürlich sehr vertraut.
BR-KLASSIK: Nun ist das hier in Bayreuth alles andere als ein klassischer "Tannhäuser" – da sieht man Tannhäuser als Clown und Venus im Glitzerkostüm. Vermutlich eine komplett andere Produktion als die, die Sie 2019 in Monte Carlo gemacht haben. Wie empfinden Sie die Inszenierung von Tobias Kratzer?
Szene aus dem "Parsifal" in der Bayreuther Inszenierung von Tobias Kratzer | Bildquelle: © Enrico Nawrath / Bayreuther Festspiele Nathalie Stutzmann: Mir gefällt diese Produktion wirklich gut – weil sie intelligent gemacht ist. Ich hab keinerlei Problem damit, dass die Zeit, in der das Ganze spielt, ins Heute verlegt wurde. Solange das Sinn ergibt und die Musik nicht torpediert, ist mir das recht. Und außerdem gefällt mir der Subtext, der mitschwingt: der andere Charakter, besonders beim Tannhäuser. Das ist ganz gewiss keine Figur, die das Publikum sofort ins Herz schließt. Es wird sich vermutlich lange schwer damit tun, ihn zu lieben oder auch nur Mitleid mit ihm haben. Umso mehr mag ich, dass man am Ende doch an den Punkt kommt, dass man mit Tannhäuser mitschwingt und ihn gern hat. Es gibt viele lustige Momente. In der Produktion steckt viel Humor. Aber im dritten Akt, da spielt Klaus Florian Vogt den Tannhäuser dann wirklich so, das einem vor Rührung die Tränen kommen.
BR-KLASSIK: Gibt es in Bezug auf Wagner etwas, dass Sie mitnehmen aus dieser Produktion hier auf dem Grünen Hügel – etwas, das man von diesem Originalschauplatz lernen kann?
Nathalie Stutzmann: Da gibt es Vieles. Als Dirigentin, als Dirigent müssen Sie natürlich eine starke Figur sein. Sie müssen für jeden einzelnen Takt ganz genau wissen, was sie wollen. Aber hier in Bayreuth müssen Sie alles zusätzlich auch kommunizieren – sie können es nicht einfach laufen lassen und darauf bauen, dass es funktioniert. Und: Sie müssen absolut flexibel sein, weil die Bedingungen es einfach erfordern. Sie müssen sich wirklich auch ihren Assistenten verlassen. Sie müssen in den Saal, sie müssen runter in den Graben. Sie müssen mit dem Orchester sprechen, um zu verstehen, was dessen Mitglieder von der Bühne überhaupt hören und was Sie vom Pult aus noch besser zeigen müssen. Und was ich wirklich bewundere, ist: Jeder, der hier ist, will auch wirklich hier sein. Eine solche Hingabe – das ist wirklich einzigartig in einer solch großen Gruppe! Von diesem Orchester können Sie alles verlangen! Es ist ihnen nichts zu viel.
Sie können absolut eintauchen in die Musik. Jeder will hier der Musik dienen. Da gibt es keine Egospielchen.
BR-KLASSIK: Und wie ist das heute, als Frau im Graben – ist das überhaupt noch ein Thema?
Nathalie Stutzmann: Gar nicht so leicht, das zu beantworten. Ich selbst empfinde mich ja überhaupt nicht als Frau im Graben. Ich bin einfach Dirigent. Dirigent zu sein, das ist eine Funktion. Und wenn mir diese Aufgabe gut gelingt, dann hoffe ich inständig, dass die Leute nicht darüber nachdenken, ob da eine Frau oder ein Mann steht, sondern wie gut ich dirigiere. Ab er klar, manchmal ist es noch ein Thema. Aber die Frage ist auch irgendwie schwer zu beantworten: Alle Dirigenten haben irgendwann mal Probleme. Auch die Männer. Und manchmal wird man halt einfach nicht gemocht. Warum auch immer. Das muss nicht unbedingt damit zusammenhängen, dass man eine Frau ist.
Hier in Bayreuth bin ich die zweite Frau am Pult und das ist auch gut – denn ansonsten war ich immer die erste. Und dass ich die Zweite bin, beweist doch auch, dass sich auch hier etwas ändert!
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