Er hat´s wieder getan! Dirigent Christian Thielemann legt nun schon sein drittes Buch vor. Dieses Mal geht es um Richard Strauss. Gewitzt, persönlich und unterhaltsam macht es selbst dem größten Strauss-Muffel Lust auf dessen Musik, von A wie Ariadne bis Z wie Zarathustra.
Bildquelle: © Salzburger Festspiele/Marco Borelli
Er hat Skat gekloppt, heimlich Schokolade in seiner Schreibtischschublade gebunkert, hat 15 Opern in gut 50 Jahren komponiert, darunter auch eine über seine Eheprobleme, und er war ein Meister der Klangfarben. Eigentlich klingt das nicht nach einem Langeweiler. Und trotzdem hat Richard Strauss, zumindest in manchen Kreisen, das Image eines behäbigen Tonsetzers. Weil es da eben einen Zeitgenossen gab, der komplett neu tönte und der in Sachen "fader Strauss" gehörig Öl ins Feuer kippte. So bezeichnete eben jener Arnold Schönberg den Kollegen Strauss als "Konjunkturritter" und als "Hofkonditor".
Christian Thielemann ist offenbar ein Schleckermaul, er kann gut mit Strauss: als Dirigent seiner Werke (mit Ausnahme der "Sinfonia domestica", die Thielemann nichts sagt) und eben auch als Geschichtenerzähler. Man klebt an Thielemanns Ausführungen, um im Konditorbild zu bleiben, vor allem, weil bei ihm Berliner Schnodderschnauzenhumor auf eine umfassende Bildung, viel Fachwissen und leidenschaftliche Neugier treffen.
Thielemann schüttelt Geschichten über die Umstände, in denen Werke entstanden sind, scheinbar mühelos aus dem Ärmel. Er bringt einem manche Figuren aus Strauss` Opern so nahe, als ob man mit ihnen bei einem Tässchen Earl Grey zusammensäße. Thielmann klamüsert auch das Verhältnis Strauss-Schönberg auseinander, als Ersterer quasi am Scheidewege stand: Geh ich atonal oder bleib ich tonal.
Ich finde nicht, dass man beide gegeneinander ausspielen sollte.
Christian Thieleman dirigert "Capriccio" bei den Salzburger Festspielen 2024: "Goldstandard"
Bildquelle: © C.H.Beck Im ersten Teil des Buches skizziert Thielemann ein schelmisch-cleveres Bild von Strauss. Schaut man sich dann eine Fotografie des "Hofkonditors" an, scheinen die Gesichtszüge plötzlich lebendig zu werden. Mit diesem Strauss im Kopf führt Thielemann den Leser und die Leserin in Kapiteln durch Lebensabschnitte des Komponisten und vor allem zu verschiedenen musikalischen Meilensteinen.
Eines nennt sich recht nüchtern: "Praktische Überlegungen zur Strauss-Interpretation". Leidenschaftlich ergänzt Thielemann einen menschelnden, besser gesagt "tierischen" Zusatz: "Wie viel Zucker für den Affen". Darunter kann man sich auch ohne Musikwissenschaftsstudium Konkreteres vorstellen, nämlich die Ausgestaltung der Musik: wie süß, wie kräftig, wie licht oder wie viel Zunder verträgt eine bestimmte Stelle. Wie strikt nimmt Strauss einen mit dem Tempo an die Kandare.
Ein anderes Kapitel heißt für den Puristen und die Puristin: "Richard Strauss und seine Orte." Wer lieber aus dem Vollen schöpft, hält sich an die Ergänzung: "Ein Rastloser auf Ochsentour". Ja, wir haben es bei Strauss mit einem Mann zu tun, der aus dem Koffer lebte, in Hotelzimmern übernachtete, ein Mann, der versuchte, irgendwo Fuß zu fassen und ein einigermaßen regelmäßiges Einkommen brauchte.
Das Buch ist trotzdem keine Lobhudelei auf einen urbajuwarischen Stammtisch-Strauss. Thielemann diskutiert auch bittere Fragen: Was war los mit diesem Strauss, als er Präsident der Reichsmusikkammer wurde, als er sich mit Goebbels im Hotel Bellevue in Dresden getroffen hat? Warum ist Strauss für Toscanini in Bayreuth eingesprungen? Thielemann beschönigt nichts, wo es nichts zu beschönigen gibt. Allerdings, das muss man als Fazit festhalten: Im Wesentlichen schwärmt Christian Thielemann über seinen "Zeitgenossen Strauss"!
Bildquelle: picture-alliance/akg-images Apropos: Das Buch heißt: "Richard Strauss – ein Zeitgenosse". Da ist Christian Thielemann nicht etwa ein Rechenfehler unterlaufen. Thielemann ist 65, Strauss vor 75 Jahren gestorben – wo ist da bitteschön der "Zeitgenosse"? Vielmehr rechnet der Dirigent anders. 10 Jahre nachdem Strauss gestorben war, wurde Thielemann geboren. Also, sagt Thielemann, lebte Strauss in "seinem" Jahrhundert! Thielemann kann Fotografien von Richard Strauss betrachten, kennt dessen Mimik, sein Lachen, seine Figur, die Hände, die Kleidung.
Strauss hat zwei Weltkriege erlebt – vor allem der Zweite Weltkrieg beeinflusste auch die Jugend und die Erziehung von Thielemann. Das Wohnhaus von Strauss existiert noch. Als Thielemann in den 2000ern Chef bei den Münchner Philharmonikern war, wurde er in der Strauss Villa in Garmisch-Partenkirchen öfter zum Mittagessen eingeladen und die Strauss-Enkel haben ihn nicht nur mit deftig bayerischer Kost, sondern auch mit Erinnerungen aus erster Hand versorgt. All das macht Richard Strauss für Thielemann zu einem Zeitgenossen. Und zu einem, für ihn, ungemein zeitgemäßen Komponisten: "Strauss war ein Spieler, ein Einseifer, ein begnadeter Wirkungsästhetiker. Er hält die Fahne der Tradition hoch, schon aus Trotz. Strauss ist modern, weil er so exzessiv gut instrumentiert. Strauss feiert das große Orchester, er treibt dessen Mittel an alle Grenzen und darüberhinaus."
Mit "Richard Strauss – ein Zeitgenosse" ist Christian Thielemann unter Mitwirkung der Journalistin Christine Lemke-Matwey ein Buch über Strauss gelungen, das auch dem Strauss-Muffel gefallen könnte: eine Mischung aus Biografie, Anekdotensammlung, Werkanalyse und Liebeserklärung. Es ist damit die perfekte Ohren-Sessel-Lektüre für lange, dunkle Abende. Fehlt eigentlich nur, dass der Ohrensessel einem dazu tatsächlich die Musik von Richard Strauss auf die Ohren gibt!
Strauss hält den Menschen seiner Zeit einen Spiegel vor, und er tut dies nicht mit einem erhobenen Zeigefinger, sondern indem er ihnen – und jetzt wird’s raffiniert – die fürchterlichsten Wahrheiten in den allerschönsten Verpackungen reicht. Wie bei Haustieren: Ich gebe meiner Katze ein Medikament und wickle es in ein Leckerli ein, sonst frisst sie es nämlich nicht.
Autoren: Christian Thielemann, mit Christine Lemke-Matwey
316 Seiten
Preis: 28 Euro (e-book 21,99)
Verlag: C.H. Beck
Erschienen am: 19. September 2024
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