Edinburgh, 6. August 1848. Frédéric Chopin ist erschöpft: "Ich fühle mich immer schwächer und ertrage die hiesige Luft nicht…ich bin aus meinem Geleise geraten, komme mir vor wie ein Esel auf einer Maskerade, wie eine Quintsaite auf einem Kontrabass." Eigentlich geht es ihm schon seit Monaten schlecht. Seit er Paris verlassen und sich auf Anraten seiner schottischen Schülerin Jane Stirling und ihrer Schwester für eine Saison in London niedergelassen hat.
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Nicht nur, dass die beiden langweiligen Damen Chopin in den vergangenen Wochen von Einladung zu Einladung geschleppt und ein Konzert nach dem anderen organisiert haben. Der Lungenkranke leidet auch unter dem feuchten Klima, liegt ständig im Bett, vermisst seine Freunde und grämt sich über die so ganz andere englische Gesellschaft: "Die Engländer messen alles nur am Pfund, lieben die Kunst, weil es ein Luxus ist. Musik ist Profession, nicht Kunst."
Dabei könnte die Bilanz schlechter sein. Die meisten Besprechungen seiner Auftritte waren positiv, es mangelt nicht an Schülern, und die Damen verschaffen ihm Einkünfte. Wo soll er in diesen unruhigen, revolutionären Zeiten auch sonst hin? Soll er in den leeren Pariser Salons spielen? Wovon die hohen Arztkosten bestreiten? England ist sicher. Viele Künstler halten sich zurzeit in London auf: Berlioz, Thalberg, Jenny Lind. Trotzdem: "Ich vegetiere dahin, träume von zu Hause oder von Rom", beklagt sich der Komponist. Und: "Ich fühle mich einsam, einsam, einsam – obwohl ich von Menschen umgeben bin."
In Schottland ist alles noch schlimmer. Die knochig bleiche, schmallippige Jane, die Chopin seit Jahren anbetet, gönnt ihm keine Pause. Überall will sie ihn vorführen. Und immer soll er das ihr gewidmete Nocturne spielen. "Sie kleben an einem wie die Kletten, man wird sie nicht los. Oft langweilen sie mich entsetzlich."
Wie anders ist die Zeit im französischen Nohant mit der einstigen Geliebten George Sand. In Nohant konnte Chopin Ruhe finden, komponieren, von gesundheitlichen Krisen genesen. Hier im feuchtkalten Norden ist noch kein Werk entstanden. Stattdessen spuckt er Blut, kann keine Treppe mehr alleine hochsteigen. Noch ein paar Konzerte in London, dann hält er es nicht mehr aus: "Noch einen Tag länger hier, und ich werde verrückt!"
Am 23. November kehrt Chopin völlig entkräftet nach Paris zurück, wo er wenige Monate später sterben wird.
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F. Chopin - Nocturne in F minor Op. 55 no. 1 - Greg Niemczuk Live in Fosnavåg
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Sendung: "Allegro" am 06. August 2024 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK