Leipzig, 4. Februar 1925: Die deutsche Pianistin Jutta Hipp wird geboren. Sie galt als "Europe's First Lady in Jazz", feierte Erfolge in den USA, nahm Platten beim bedeutenden Label "Blue Note" auf. Doch bald blieb ihr nur der völlige Rückzug. Einige männliche Kollegen spielten keine rühmliche Rolle dabei. Am 4. Februar wäre die herausragende Musikerin 100 Jahre alt geworden.
Bildquelle: Archiv Wolke Verlag
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Sie hatte Drive, eine kantige Klarheit im Spiel. Sie war modern. Und wie Kollegen später über sie sagten: Sie war hip. Sie hieß auch so, geschrieben mit zwei p. Jutta Hipp. Die weltberühmte Jazzpianistin war weiß, weiblich, deutsch. Und in den 1950ern ein Star europaweit und auch in den USA.
Vollständig hieß sie: Jutta Mathilda Lina Toni Hipp. In Leipzig kamsie 1925 zur Welt, lernte mit neun Jahren Klavier bei einer Kirchenorganistin, im Zweiten Weltkrieg hörte sie heimlich Jazz bei Freunden. Notabitur. Studium der Grafik und Buchkunst. 1945 Gründung eines eigenen Quintetts. Als sowjetische Truppen in Leipzig ankamen, zog sie in den Westen. Fasste zuerst in München Fuß, wo sie viel Jazz spielte, dann ging sie nach Frankfurt am Main. Dort – in der damaligen bundesdeutschen Jazz-Hauptstadt – wurde sie mit ihrem neuen Quintett schnell bekannt. Denn ihre Musik klang cool, konturenscharf und mitreißend.
Bald galt Jutta Hipp als "Europe's First Lady in Jazz" – und dann wanderte sie aus in die USA und nahm beim weltweit herausragenden Label Blue Note drei Platten auf. Als erste Frau bei diesem Label! Schöne Aufnahmen, nicht zuletzt mit dem Saxophonisten Zoot Sims. In den USA spielte Jutta Hipp auch mit Größen wie dem Bassisten Charles Mingus und dem Pianisten Horace Silver zusammen, dessen Stil sie besonders bewunderte.
Doch die Männerwelt des Jazz machte es der Frau schwer, ein selbstbestimmtes Leben mit der Musik zu führen. Schlagzeuger Art Blakey demütigte sie öffentlich in einem Club. Großkritiker Leonard Feather, einst ihr Förderer, schrieb keine Hymnen mehr über sie, als sie sich von seinem Einfluss löste. Feather wollte unter anderem, dass sie Kompositionen von ihm in ihr Repertoire aufnahm.
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Dear Old Stockholm (Live At The Hickory House,1956)
Jutta Hipp begann zu verzweifeln, suchte sich einen Job in einer Fabrik – und verstummte vier Jahre nach ihrer Ankunft in New York plötzlich und für immer als Musikerin. Sie arbeitete Jahrzehnte lang als Näherin in einer Kleiderfabrik im Stadtteil Queens. Das Klavier rührte sie nicht mehr an. Dem Jazz blieb sie jedoch treu: Sie fotografierte regelmäßig Bands in Clubs. Am 7. April 2003 starb sie in ihrer Wohnung in Queens an Krebs. Sie wurde 78 Jahre alt.
Die Saxophonistin und Musikwissenschaftlerin Ilona Haberkamp hat 2023 eine vorzüglich recherchierte und formulierte Biographie über Jutta Hipp veröffentlicht: "Plötzlich Hip(p)" (Wolke Verlag, 224 Seiten). Darin kann man auch die anderen künstlerischen Seiten dieser Pianistin erkennen: als Fotografin, Zeichnerin und Lyrikerin. Jutta Hipp schrieb fein gearbeitete Gedichte, die nicht zuletzt die Existenz von Musikerinnen und Musikern reflektierten. In einem davon, "Der grüne Zweig", heißt es: "Ich hatte mir mal vorgenommen,/ Von holden Musen unterstützt, / Auf jenen grünen Zweig zu kommen, / Auf dem der Mensch so gerne sitzt". Das Gedicht, das Erfolge und Misserfolge resümiert, endet mit den Zeilen: "Drum mach ich mir den Spruch zu eigen: / Entbehre gern, was Du nicht hast,/ Der eine sitzt auf grünem Zweige, / Der and're auf dem dürren Ast."
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Just Blues
Die Pianistin Jutta Hipp, die konsequent ihren eigenen Weg suchte, gilt heute vielen als bedeutende Wegbereiterin für Jazz-Instrumentalistinnen aus Europa. Sie war auch ein wesentlicher Einfluss für einen damals jungen Mann, der später zu einer der beständigsten Stimmen des Jazz in Deutschland wurde: den Klarinettisten Rolf Kühn. Ihn hörte sie bei einem Auftritt, fand er spiele "ganz nett" und schenkte ihm eine Platte von Benny Goodman ("Hallelujah"); die Begegnung mit Jutta Hipp war für Kühn, der von 1929 bis 2022 lebte und dessen Karriere als Jazzmusiker sieben Jahrzehnte umspannte, eine wichtige Initialzündung.
In den vergangenen Jahren wurde ihre Musik nach und nach wiederentdeckt – nicht zuletzt auch durch Aufnahmen, die beim zweiten Deutschen Jazzfestival in Frankfurt am Main 1954 und 1955 entstanden und auf CD beim verdienstvollen Label "Bear Family Records" erschienen. Bei diesem Festival, einer Veranstaltung, die wichtige Impulse für den Jazz in der Bundesrepublik Deutschland setzte, spielte Jutta Hipp unter anderem mit dem Münchner Klarinettisten und Bandleader Hugo Strasser zusammen (der damals Altsaxophon spielte), außerdem im Jahr darauf mit ihrer eigenen Band, in der unter anderem Saxophonist Joki Freund und der weltberühmte Gitarrist Attila Zoller mitspielten. Einer ihrer Weggefährten in der Frankfurter Zeit war auch der sehr lange aktive Altsaxophonist Emil Mangelsdorff (1925 bis 2022), dessen jüngerer Bruder, der Posaunist Albert Mangelsdorff, Jahrzehnte lang der weltweit berühmteste bundesdeutsche Jazzmusiker war. Eine faszinierende Zusammenstellung ihres Schaffens bietet auch die 6-CD-Box "The Life and Art of Jutta Hipp", die 2016 erschien, oder das Album "The Lost Tapes", erschienen bei Jazzhaus.
Gefeiert, ausgegrenzt, lange Zeit von vielen vergessen – und immer eine Wiederentdeckung wert: die Jazzpianistin Jutta Hipp.
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Sendung: "Allegro" am 4. Februar 2025 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK