Die Begegnung mit Schostakowitschs Musik verglich Mieczyslaw Weinberg mit der "Entdeckung eines Kontinents". Aber auch umgekehrt war Schostakowitsch fasziniert von den Kompositionen des 13 Jahre jüngeren Kollegen. Eine Künstlerfreundschaft in repressiven Sowjet-Zeiten. Doch während Schostakowitsch stets internationalen Ruhm genoss, stand Weinberg lange in seinem Schatten. Völlig zu Unrecht, findet der Geiger Linus Roth. Zusammen mit BR-KLASSIK stellt er das Violinkonzert von 1959 vor.
Bildquelle: © Tommy Persson
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"Das Violinkonzert von Weinberg ist für mich eines der großen Violinkonzerte des 20. Jahrhunderts zusammen mit Schostakowitsch, Prokofjew, Berg, Bartók. Ich merke, jetzt wo ich es immer häufiger gespielt habe, wie sehr das Publikum berührt ist von diesem Konzert, aber auch fasziniert." Linus Roth ist fasziniert vom Werk eines zwischenzeitlich so gut wie vergessenen Komponisten: Mieczyslaw Weinberg, 1919 als Sohn eines Geigers in Warschau geboren. Bei Hitlers Überfall auf Polen flieht der 19-jährige Klavierstudent allein nach Weißrussland; alle zurückgebliebenen Mitglieder seiner jüdischen Familie werden von den Nationalsozialisten ermordet. Zwei Jahre später – inzwischen hat Weinberg in Minsk Komposition studiert – zwingt ihn der Einmarsch der deutschen Wehrmacht in die Sowjetunion ein zweites Mal zur Flucht.
1943 kann er sich in Moskau niederlassen – unterstützt von Dmitrij Schostakowitsch, mit dem ihn fortan eine enge Künstlerfreundschaft verbindet. Doch 1948 wird Weinberg zur Zielscheibe der berüchtigten Anti-Formalismus-Kampagne des Regimes, und Antisemitismus gehört ohnehin zum Alltag in der Sowjetunion. Jahrelang wird er vom Geheimdienst überwacht und schließlich sogar verhaftet. Stalins Tod 1953 rettet ihn vor dem Gulag. Eine Biographie, die sein Schaffen prägt, so empfindet es Geiger Linus Roth: "Weinbergs Musik ist eigentlich immer sehr persönlich und ich meine schon, dass es eine bestimmte Art der Aufarbeitung des Traumas seines Lebens ist. Also die Realität seines Lebens spiegelt sich in der Musik. Ab dem Zeitpunkt, dass er fliehen musste, ging es eigentlich nie wieder Richtung Glück, sondern es war immer schlimm."
Es war ein ein Aha-Erlebnis, zum ersten Mal Weinberg zu spielen.
In Moskauer Künstlerkreisen immerhin ist Weinberg in den 1960er und 1970er Jahren hochgeschätzt, Interpreten wie Mstislaw Rostropowitsch, David Oistrach und das Borodin-Quartett spielen seine Werke. Mit Glasnost und Perestroika rückt eine radikalere Moderne in den Blickpunkt. Sofia Gubaidulina und Alfred Schnittke verdrängen die ältere Generation, so dass Weinberg bis zu seinem Tod 1996 bereits weitgehend vergessen ist. Linus Roth stößt bei einem Festival jüdischer Musik zufällig auf Weinbergs Musik und fängt Feuer: "Ja das war wirklich ein Aha-Erlebnis, zum ersten Mal Weinberg zu spielen. Ich war tatsächlich nicht nur hin und weg, sondern ich war einerseits so tief bewegt von dieser Musik, die so einen direkten Zugang sucht ins Herz des Zuhörers, zum anderen aber auch irgendwie schockiert, weil ich mich gefragt habe, wie es sein konnte, dass ich Weinberg noch nicht kannte, wenn die Musik so großartig ist."
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Der Geiger Linus Roth | Bildquelle: BR/Lisa Hinder Linus Roth gründet die "Internationale Mieczyslaw Weinberg Gesellschaft" und fasst den Plan, die hochanspruchsvollen Geigenwerke des Komponisten einzuspielen. Neben Überzeugungsarbeit übernimmt Roth auch einen Großteil der Produktionskosten, so dass die Alben mittlerweile bei Challenge Classics erschienen sind: sechs Violinsonaten, drei Solosonaten, die Moldawische Rhapsodie und eben das Violinkonzert op. 67: "Es beginnt mit einem Kracher im Schlagzeug und sofort setzt die Geige ein", beschreibt Roth den Anfang des Konzerts. "Es ist wirklich eine Flucht nach vorne, hier spiegelt sich Weinbergs Leben direkt ab in der Musik. Der zweite Satz ganz anders, die Geige setzt den Dämpfer auf und es beginnt eine Art Walzer mit einem morbiden Charme; für mich sind es eher die Skelette, die auf dem Friedhof einen Walzer tanzen. Der dritte Satz schließlich ist für mich das Herzstück: Es ist eine der großen Stärken von Weinberg, eine simple, aber unglaublich intensive Melodie zu formulieren, die aber einen so langen Aufbau hat, dass es einem fast den Atem nimmt. Und im letzten Satz kommt das Musikantische bei ihm durch, mit richtig viel Pfeffer und Esprit und Elan!"
Weinbergs Musik wurde im Ausland mit jahrzehntelanger Verspätung wahrgenommen. Eigentlich erst, seit David Pountney 2010 die Oper "Die Passagierin" bei den Bregenzer Festspielen inszenierte. Wie in vielen seiner Werke setzte sich der Komponist hier mit dem Holocaust auseinander – eine Thematik, die der Sowjetapparat gern verdrängte. Zumal Weinberg als gebürtiger Pole jüdischer Abstammung zum förderungswürdigen Staatskomponisten ohnehin nie getaugt hätte. Und letztlich hat ihm sogar die von der Nachwelt missverstandene Freundschaft zu Schostakowitsch wohl eher geschadet, so Linus Roth: "Die Beziehung zwischen Schostakowitsch und Weinberg war definitiv auf Augenhöhe, die haben sich gegenseitig inspiriert. Weinberg hat ja nie bei Schostakowitsch studiert, das wurde ihm aber dann irgendwie so ausgelegt mit dem Ergebnis: Das ist halt der Schüler, das ist so wie Schostakowitsch, nur in schlechter."
Dass Weinberg mit seinen Liedern, Sonaten, Opern, 17 Streichquartetten und 22 Symphonien alles andere als ein "B-Schostakowitsch" ist, dämmert der Musikwelt seit einigen Jahren durch das Engagement renommierter Künstler wie Gidon Kremer, Mirga Gražinytė-Tyla und Linus Roth, der das Violinkonzert neu zur Diskussion gestellt hat. Den Schluss des Konzerts beschreibt er folgendermaßen: "Dann kommt das Ende, und er holt sich das allererste Thema des ersten Satzes, das im Kopfsatz fortissimo und schnell ist. Am Schluss ist es plötzlich in langsam komponiert, pianissimo morendo, und so schließt sich der Kreis des ersten Taktes mit dem des letzten Taktes, aber wie gesagt, morendo, ersterbend. Danach ist meistens erstmal lange Stille, bevor zögerlich dann der Applaus einsetzt. Auf diese Weise bewegt Weinbergs Musik die Zuhörer."
Mieczyslaw Weinberg:
Violinkonzert g-Moll, op. 67
Deutsches Symphonie-Orchester Berlin
Leitung: Mihkel Kütson
Label: Challenge
Sendung: "Das starke Stück" am 19. November 2024, 19.05 Uhr auf BR-KLASSIK