Jeita, 22. November 1969: Karlheinz Stockhausen tritt im Libanon auf. Dort stellt er seine neuesten Werke vor – und zwar in einer Tropfsteinhöhle. Denn die Grotte von Jeita beherbergt nicht nur einen der größten Stalaktiten der Welt, sondern hat auch eine einzigartige Akustik.
Bildquelle: BR / Stockhausenstiftung
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Die Höhle von Jeita, eine halbe Autostunde nördlich von Beirut, ist eine der größten und schönsten Tropfsteinhöhlen der Welt. Zehn Kilometer lang, mit Hallen, die mehr als hundert Meter hoch sind. Da gibt es einen Fluss, auf dem man durch die weiß glitzernde Zauberwelt rudern kann. Stolze Stalagmiten, die sich majestätisch wie Könige erheben. Steinerne Vorhänge, die sich in kristallblauem Wasser spiegeln. Für den Komponisten Karlheinz Stockhausen aber ist etwas ganz anderes entscheidend: "Dieser Raum ist viel größer als alle Konzertsäle, die ich kenne. Das Echo dauert sechs, sieben, manchmal sogar acht Sekunden. Jeder Musiker ändert hier seine Spielweise. Und die großen Abstände zwischen den Lautsprechern erlauben es mir, Klänge auf die Reise zu schicken."
Dieser Raum ist viel größer als alle Konzertsäle, die ich kenne.
Vier Konzerte will Elektronik-Papst Stockhausen hier an diesem einzigartigen Ort im Nahen Osten mit seinem Ensemble geben. Und so schleppen Männer mit Beduinentuch auf dem Kopf schwere Instrumentenkoffer tief ins Innere der Höhle. Ein riesiger Gong wird aufgestellt, ein Mischpult installiert, sogar ein großer Konzertflügel findet zwischen den Tropfsteinen Platz.
Dann kommt das Publikum. Elegant gekleidete Damen und vornehme Herren mit Anzug und Krawatte. Absätze klackern, es wird Französisch und Arabisch gesprochen. Der Maler Max Ernst ist dabei und die Chansonsängerin Françoise Hardy. Noch gilt der Libanon als Perle des Orients, wenige Jahre, bevor hier ein gnadenloser Bürgerkrieg losbricht und die Höhle von Jeita zum Munitionslager umfunktionieren wird.
Die Tropfsteinhöhle von Jeita im Libanon | Bildquelle: picture alliance / Hans Lucas | Antoine Boureau Noch aber ist Zeit, auf Stockhausens Musik zu lauschen. Auf fremdartige elektronische Klänge, die durch die Höhle geistern. Auf das tiefe Brummen der Posaune, das zarte Zittern der Bratsche, das Rauschen des Tamtams. Oder auch auf meditativen Obertongesang. In den Pausen sitzt Stockhausen auf einem Felsen hoch über dem Mittelmeer und philosophiert in tadellosem Französisch über den Nahostkonflikt: "Keiner ist im Recht. Ob es Juden sind oder Araber – sie müssen einander verstehen! Es gibt genug Platz auf dieser Erde für jeden. Es gibt genug zu essen für jeden. Es gibt genug Freiheit für jeden."
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Sendung: "Allegro" am 22. November 2024 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK