21. November 1912: Igor Strawinsky und Richard Strauss begegnen sich in Berlin. Die beiden Komponisten – der eine noch jung, der andere ein renommierter Meister – respektieren einander zwar, sind aber zu verschieden, als dass sich so etwas wie eine Freundschaft entwickeln könnte.
Bildquelle: picture alliance / Mary Evans Picture Library
Das Kalenderblatt zum Anhören
Dass sie sich getroffen haben, ist sicher. Wie genau das Treffen war, wissen wir nicht. An diesem Abend dirigiert Strauss eine Vorstellung seiner "Ariadne auf Naxos". Es kann also sein, dass Strawinsky in der Generalprobe sitzt und danach mit Strauss einen Kaffee trinkt. Oder dass er nach der Verstellung hinter die Bühne kommt, ins Dirigentenzimmer, wo Richard Strauss die Huldigungen entgegennimmt.
Unspektakulär, das Treffen, und trotzdem denkwürdig. Strauss ist 48 Jahre alt, Erster Hofkapellmeister in Berlin und eine Berühmtheit. Strawinsky ist 30 Jahre alt, ein junger Wilder, und Richard Strauss hat von ihm natürlich schon gehört – wie er in Paris mit den spektakulären "Ballets Russes" von Sergei Diaghilew einen Erfolg nach dem anderen feiert: den "Feuervogel" und "Petruschka". Und jetzt arbeitet Strawinsky am "Sacre du printemps", das ein Jahr später einen riesigen Skandal auslösen wird.
Der "junge Wilde": Igor Strawinsky | Bildquelle: picture-alliance / RIA Nowosti Warum besucht Strawinsky Richard Strauss? Die beiden haben doch vollkommen unterschiedliche Musiksprachen? Strawinsky findet den Kollegen mit seinen prächtigen Orchestrierungen viel zu sentimental und rückwärtsgewandt, konventionell und gefällig. Später wird er sagen: "Strauss ist ein Genie, aber er hat sich selbst ruiniert, indem er die Moderne verraten hat." Und von Strauss ist der Satz überliefert: "Ich verstehe nicht, warum jemand dissonant schreiben muss, wenn er auch harmonisch schreiben könnte."
Also warum dieses Treffen? Networking. Strawinsky will in Berlin die eigene Musik promoten und sich mit anderen bedeutenden Komponisten und Musikern austauschen. Und wer weiß, was sich daraus ergibt… Nein, es ergibt sich nichts, die beiden sind sich zu fremd, das Gespräch ist höflich und oberflächlich. Sie haben wenig Sympathie füreinander und noch weniger Verständnis für die künstlerischen Ansätze des anderen. Aber im Nachhinein hat das Treffen doch eine besondere Bedeutung: Es symbolisiert den Übergang von der alten romantischen Tradition zur Moderne.
Unsere Reihe "Was heute geschah" zu bemerkenswerten Ereignissen der Musikgeschichte können Sie auch um 8:40 Uhr, um 12:30 Uhr und um 16:40 Uhr auf BR-KLASSIK im Radio hören. Weitere Folgen zum Nachhören finden Sie hier.
Sendung: "Allegro" am 21. November 2024 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK