Urenkelin von Richard Wagner, Tochter von Wolfgang Wagner: In große Fußstapfen ist Katharina Wagner getreten. Seit 2009 verantwortet sie die Bayreuther Festspiele – und sorgt heuer für ein Feuerwerk an Neuproduktionen.
Bildquelle: Enrico Nawrath
Was Wolfgang Wagner wohl dachte, als es mit ihm zu Ende ging? Wovon träumte er noch in seinen letzten Stunden? Weil wir es nicht wissen, müssen wir darüber spekulieren. Und wagen die Behauptung: Wovon der Alte nicht zu träumen gewagt hätte, ist, dass seine geliebte Tochter und Nachfolgerin einmal innerhalb eines einzigen Festspielsommers nicht weniger als acht ausgereifte Bühnenwerke seines Großvaters aufführen würde. Das sind 80% aller Bayreuth-würdigen Werke. Ein solches Bündel hatte Wolfgang selbst vor über einem halben Jahrhundert geschnürt (1970), dabei aber neben einem neuen "Ring" nur Wiederaufnahmen programmiert.
Heuer ist alles noch eine Umdrehung sensationeller: Denn neben den "Ring"-Neuinszenierungen "Rheingold", "Walküre", "Siegfried", "Götterdämmerung" und den Wiederaufnahmen "Holländer", "Tannhäuser", "Lohengrin" kommt tatsächlich noch ein neuer "Tristan" als Eröffnungspremiere heraus. Das sind insgesamt 20 Stunden neu gedeutetes Musiktheater! Und auch das Begleitprogramm mit Konzerten im Festspielhaus, kleinformatigen Veranstaltungen und großem Open-Air-Event am Rande des Hügelgeschehens ist 2022 besonders üppig.
Ich denke, man muss schon auch eine Leidenschaft für diesen Beruf haben. Es kann nicht nur eine familäre Verpflichtung sein.
Katharina Wagner wagt – und gewinnt? Sie ist ja Chefin eines Opernfestivals, das seit Jahrzehnten ohnehin regelmäßig Respekt verdient. Wenn nämlich auf dem Grünen Hügel mal wieder eine neue "Ring"-Deutung ansteht, werden alle vier Stücke mit der größten Selbstverständlichkeit innerhalb von sechs Tagen herausgebracht. Andere Opernhäuser lassen einem Regisseur, einem Dirigenten viel mehr Zeit, verteilen eine Neuinszenierung der Tetralogie schon gerne auf zwei Spielzeiten. In weniger als einer Woche wird in Bayreuth der komplette Zyklus der Öffentlichkeit überantwortet. Diesmal, wie man wolkigen Andeutungen zufolge weiß, im Outfit einer Netflix-Serie! Vor zwei Jahren, als eigentlich schon "Ring"-Premiere auf dem Grünen Hügel sein sollte, hätten Dirigent Pietari Inkinen und Regisseur Valentin Schwarz noch weniger Lebenserfahrung in ihre Waagschalen werfen können als jetzt. Inzwischen sind es - gemeinsam! - 75 Jahre. Darauf kam in der Festspielgeschichte manchmal einer der beiden Verantwortlichen im Leitungsteam allein. Erweist Katharina Wagner sich hier als mutig oder leichtsinnig?
Auch wenn normalerweise in solchen "Ring"-Premierenjahren nebenher nur Wiederaufnahmen älterer Produktionen gezeigt werden, kommt jetzt also noch eine weitere gewichtige Novität hinzu. Mehr geht nun wirklich nicht! Die Wahl fiel dabei keineswegs auf den vergleichsweise kurzen, pausenlosen "Holländer", der schon letztes Jahr an der Reihe war: mit dem spektakulären Frauen-Duo Oksana Lyniv als erster Dirigentin im Orchestergraben und mit der litauischen, gerne Existentielles auslotenden Sopranistin Asmik Grigorian als Senta! Nein, es soll heuer ausgerechnet der "Tristan" sein, ein Stück, das vor rund 150 Jahren einige Monate lang als unaufführbar galt (nicht irgendwo, sondern im Opern-Mekka Wien). Eine Sängerin, einen Sänger für die heiklen Titelpartien muss man eben erst mal finden. Und einen physisch und psychisch belastbaren Dirigenten auch. Keine Partitur hat so viele Taktstockmagier in den Tod getrieben wie der "Tristan". Es war auch Katharina Wagners letzte Inszenierung in Bayreuth – 2015 war das, acht Jahre nach ihrem Debüt am Grünen Hügel mit den "Meistersingern" 2007.
Katharina Wagner setzt auf den Stuttgarter Generalmusikdirektor Cornelius Meister – allein seines Namens wegen wird der Mann doch wohl Herr der Lage sein und bleiben? Sängerisch sind mit Catherine Foster und Stephen Gould zwei gestandene, an ihren Aufgaben über Jahre gewachsene Kräfte im Boot. Regisseur Roland Schwab arbeitet wie Cornelius Meister erstmals unter den besonderen, ortstypischen Bedingungen. Er hat schon einen beachtlichen "Lohengrin" in der Salzburger Felsenreitschule inszeniert und tritt nun zum Vergleich mit der 2019 abgesetzten letzten Bayreuther "Tristan"-Inszenierung an. Von wem war die noch gleich? Wie gesagt: Katharina Wagner!
Da sich Roland Schwab laut eigener Ankündigung nicht wie die Vorgängerin am Regiepult ein Konzept der Desillusionierung ausdenkt, sondern auf das romantische Sehnsuchtspotential des Stücks fokussiert, absolut musikbezogen sogar, könnte seine Werk-Sicht zumindest vom konservativen Teil des Publikums mehr geschätzt werden als die vorangegangene Arbeit der Hausherrin. Es wäre nicht das erste Mal. Denn Katharina Wagners angefeindeten "Meistersinger", mit denen sie vor 15 Jahren auf dem Hügel ihren Einstand gab, sind ebenfalls von einer Werkdeutung abgelöst worden, die deutlich mehr Zuspruch fand: Der Australier Barrie Kosky debütierte 2017 und landete einen Coup.
Die inzwischen 44-jährige Tochter Wolfgang Wagners setzt die Tradition der starken Frauen auf dem Grünen Hügel fort (ohne die Komponistenwitwe Cosima gäbe es das Mekka der Wagnerianer*innen wohl nicht in der bekannten Form). Katharina tritt in die Fußstapfen ihres Vaters. Denn der stand in seiner Eigenschaft als Regisseur nach 1951 stets im Schatten seines Bruders Wieland. Nach dessen Tod hatte Wolfgang das Geschick und die Größe, so geniale Köpfe wie den Regisseur Patrice Chéreau ins Oberfränkische zu locken. Auch wenn die Empfehlung von Pierre Boulez kam, dem Dirigenten des legendären "Jahrhundert-Rings" (1976). Die Wagner-Urenkelin will heutzutage weg von den metierfremden Filmregisseuren, von denen sie schon öfter in letzter Minute einen Korb erhielt. Opern zu visualisieren, Opernfiguren zu beleben, will handwerklich gelernt sein! Und jetzt staunen wir: Nach ihrer lebensbedrohlichen Erkrankung und, etwa gleichzeitig, nach der Pandemie-bedingten Absage der Festspiele vor zwei Jahren, legt Katharina Wagner plötzlich eine Extra-Portion Ehrgeiz an den Tag. Konditionell und logistisch jedenfalls. Wer hätte das für möglich gehalten? Dieser Familie liegen Grenzerkundungen einfach im Blut. Schon Richard der Große wuchs gerne über sich hinaus.