Mit fünf neuinszenierten Musikdramen, Open-Air-Konzert und Theaterbegleitprogramm war in Bayreuth im vergangenen Sommer künstlerisch einiges geboten. Doch Sexismusvorwürfe, auch gegen Christian Thielemann, Machtkämpfe zwischen Intendantin Katharina Wagner und dem Verwaltungsratsvorsitzenden erschweren, dass es am Hügel (nur) der Kunst gilt.
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Am 25. Juli um Punkt 16 Uhr erklingt der Tristan-Akkord, die legendäre Doppeldominante mit tief alteriertem Quintton im Bass und großem Sextvorhalt vor dem Septimleitton – eine Frage ohne Antwort. Und derer gibt es auch im Jahr 2022 in Bayreuth einige.
Katharina Wagner hat die Sexismusvorwürfe bei den Bayreuther Festspielen ernst genommen - und Konsequenzen gezogen. | Bildquelle: Enrico Nawrath
Noch bevor die Festspiele beginnen, tönt der Nordbayerische Kurier: "Sexismus-Vorwürfe. Frauen im Festspielhaus begrapscht". Der betreffende Zeitungsartikel kommt über raunend Ungefähres nicht hinaus. Täter und Opfer werden nicht genannt – mit Ausnahme eines Vorfalls, von dem die Festspielleiterin Katharina Wagner selbst betroffen ist: Ein "bekannter Mitwirkender" soll ihr an die Brust gefasst haben. Wer es war? Eine Frage ohne Antwort.
Mag sein, dass Wagner direkt nach diesen Erlebnissen hätte proaktiv handeln müssen, um andere Mitwirkende zu beschützen. Mag sein, dass der Artikel journalistisch problematisch ist. Doch er stößt eine notwendige Debatte um den Umgang mit Übergriffen an – in der die Festspielleiterin souverän reagiert.
Man kann mir auch Briefe unter der Bürotür durchschieben. Ich möchte alles tun, damit Betroffene geschützt werden.
In mindestens einem konkreten Fall von Übergriffigkeiten, der BR-KLASSIK bekannt ist, wenden sich Mitarbeiterinnen hilfesuchend an Katharina Wagner. Die Festspielleiterin hält Wort und stellt sich auf die Seite der Betroffenen. Und dann ist da noch Christian Thielemann, der im Zusammenhang mit den Sexismusvorwürfen erwähnt wird … Aber dazu gleich.
Szenenbild aus Wagners "Die Walküre", Inszenierung Bayreuther Festspiele 2022, Regie: Valentin Schwarz | Bildquelle: © Bayreuther Festspiele/Enrico Nawrath
Zunächst zur Kunst: Fünf neuinszenierte Musikdramen in einer Spielzeit bedeuten einen Marathon für die Mitwirkenden. Der Valentin-Schwarz-"Ring", vom Regieteam großspurig als das angekündigt, was Wagners "Ring" seit jeher ist – eine Serie – wird zwar von der New York Times als "Produktion des Jahres" nominiert, floppt aber mehrheitlich bei Publikum und Kritik. Zu viele Fragen ohne Antwort.
Der kurzfristig im Corona Worst-Case aus dem Boden gestampfte "Tristan" von Roland Schwab hingegen mausert sich zum Publikumsliebling. Als "transzendierendes Theater einer Weltflucht" angesichts der Wirren der Zeit vom Regisseur beschrieben, kommt die Inszenierung harmlos daher, und das kommt bei vielen Fans gut an. Außerdem überraschen die Festspiele mit einem vor allem von den Bayreuther Bürgerinnen und Bürgern begeistert aufgenommenen Open Air im Festspielpark und dem Theaterabend "Nach Tristan".
Auch im Graben gibt es viel Unerwartetes: Das Coronavirus erzwingt die große Rochade der Dirigenten. Pietari Inkinen erkrankt einen Monat vor den Ring-Premieren, für ihn springt Cornelius Meister ein, der eigentlich sein Debüt mit dem "Tristan" hätte geben sollen, den wiederum der frisch angeheuerte Markus Poschner dirigiert. Zwei Grabenneulinge am Pult, viele Grabenneulinge im Orchester, das hört man. Nicht nur die Thielemannianer murren: Warum dirigiert Thielemann nicht den Ring, wo er doch bewiesen hat, dass er die Festspielakustik beherrscht wie kein anderer. Sein "Lohengrin" klingt gewohnt genial – doch gesprochen wird vorrangig darüber, ob er sich nun frauenfeindlich geäußert hat oder nicht.
Christian Thielemanns "Lohengrin" klingt genial. Doch diskutiert wird vorrangig, ob er sich frauenfeindlich geäußert hat. | Bildquelle: Robert Michael/BR Bild Thielemann soll sich schriftlich beschwert haben, es gäbe zu viele Bassistinnen im Festspielorchester. Er erklärt, missverstanden worden zu sein, und bestreitet öffentlich die Existenz einer solchen Mail. Der Verwaltungsratsvorsitzende Georg von Waldenfels, der in der Pressekonferenz vor der Premiere engagiert das Wort ergreift, bestätigt bei seinem Versuch, den Vorfall als Missverständnis aufzuklären, dennoch die Existenz eines internen Schreibens. Ob sich Thielmann nur, wie er angibt, über zu viele Neubestzungen im Orchester beschwert hat, oder eben darüber, dass es zu viele Frauen seien? Eine Frage ohne Antwort. Der Festspielleiterin Katharina Wagner bleibt hier nur zu betonen, sie habe keine der Musikerinnen ausgetauscht, "natürlich nicht", und dass sie es auch zu keinem Zeitpunkt vorgehabt hätte.
Es schwelt ein immer offenkundig werdender Konflikt zwischen Thielemann und von Waldenfels auf der einen und Festspielleiterin Wagner, deren Vertragsverlängerung nach 2025 nächstes Jahr verhandelt wird, auf der anderen Seite. Dies wird deutlicher, als später im Jahr eine Diskussion über die Anschaffung von Augmented-Reality-Brillen für den "Parsifal" 2023 losbricht. Nur für ein Viertel des Publikums werden solche Brillen zur Verfügung stehen. Katharina Wagner ist erklärte Befürworterin des Regie-Konzepts von Jay Scheib. Georg von Waldenfels sagt im BR-KLASSIK-Interview: "Ich bin nicht gegen die Brillen an sich". Doch solange die Finanzierung unsicher sei, "können wir als Gesellschaft nicht sagen: Wir sind dafür."
Von Waldenfels ist nicht nur Vorsitzender des Verwaltungsrates, sondern außerdem der Mäzenen-Vereinigung "Gesellschaft der Freunde von Bayreuth" (GdF). Als Vorsitzender der GdF wäre es seine Aufgabe, die Festspiele bei der Beschaffung des Geldes für die Brillen nach Kräften zu unterstützen – und da wäre möglicherweise mehr Potenzial gewesen, wenn man bedenkt, dass eine seiner GdF-Vorstandskolleginnen Dorothee Bär ist, die ehemalige Staatsministerin für Digitales.
Georg von Waldenfels, Chef des Verwaltungsrats und Vorsitzender des Vereins der Freunde der Bayreuther Festspiele | Bildquelle: BR Von Waldenfels' angreifbar-ambivalentes Verhalten bleibt ebenso eine Frage ohne Antwort wie das grundlegende Problem, das sich in seiner Person widerspiegelt: die komplizierte, intransparente Verwaltungsstruktur der Festspiele, die Veränderung und Fortschritt massiv erschwert. So ein Fortschritt wäre eine Inszenierung, die mit Augmented Reality arbeitet. Schließlich ist die Idee "Bayreuth" die der perfekten Illusion. Mit der "Sparversion" des "Parsifal" verpasst Bayreuth die Chance, so wie früher Maßstäbe in Sachen zeitgenössischer Theaterästhetik zu setzen. Damit wird man sich weiter beschäftigen müssen, auch auf Druck von Kulturstaatsministerin Claudia Roth. Denn in Bayreuth gilt es wie in jeder staatlichen Institution, in der öffentliche Gelder stecken, eben nicht nur der Kunst, sondern auch der Politik.
Und dann ist da noch die Debatte um das Wort "Führer". Der Nordbayerische Kurier versucht sich in der Skandalisierung dieses Begriffs im "Lohengrin"-Libretto, die Festspielleitung ersetzt "Führer" schließlich durch das in anderen Fassungen der Oper verwendete Wort "Schützer". Auch hier ist Christian Thielemann anderer Meinung. Weite Teile der Fangemeinde zweifeln, ob eine sprachliche Bereinigung darüber hinwegtäuschen könnte, dass bei Wagner so einiges politisch problematisch und schwer diskussionswürdig ist. Und gewitzte Mitwirkende im Haus taufen die einst als "Führerloge" bekannte Loge rechts (ja wirklich, die rechte Loge) in vorauseilendem Gehorsam in "Schützerloge" um.
Das Problem der Vergangenheit bleibt auf dem Grünen Hügel auch 2022 ungelöst. Ebenso wie das der verworrenen Verwaltungsstruktur.
Sendung: "Leporello" am 22. Dezember 2022 ab 16:05 Uhr auf BR-KLASSIK
Kommentare (2)
Samstag, 24.Dezember, 09:35 Uhr
Bernd Fischer
Kalter Kaffee zum Jahresende!
Freitag, 23.Dezember, 12:05 Uhr
Gufo
Führer /Schützer
Gibt es in Bayreuth demnächst Fremdenschützer, Zugschützer, den Schützerschein, den Lokschützer ? Ist das schützerlose Auto das der Zukunft usw.?Etwas sonderbare Zeiten kommen auf uns zu.