Sie kommen aus einer Kleinstadt im Hunsrück und wurden in der Alte-Musik-Szene Kölns musikalisch sozialisiert: Längst haben die Brüder Christoph und Andreas Spering als Ensemblegründer und Dirigenten ihren Weg gemacht.
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BR-KLASSIK: Christoph Spering und Andreas Spering, wieviel Kontakt haben Sie beide derzeit überhaupt miteinander?
Andreas Spering: Im Augenblick ist es relativ wenig. Ich war aber jetzt extrem viel unterwegs. Gerade habe ich eine Opernproduktion in Lausanne hinter mir und bin jetzt viel in Brandenburg, wo ich Chefdirigent der Symphoniker bin. Sonst haben wir mehr Kontakt.
Christoph Spering: Ja, dem ist nichts hinzuzufügen. Ich habe mehr hier im Kölner Raum zu tun. Und ich bin dann immer da und warte, wann Andreas Zeit hat.
BR-KLASSIK: Sind Sie da in regem Austausch? Auch, was künstlerische Fragen angeht? Oder sind das dann eher private Dinge?
Andreas Spering: Beides eigentlich. Um beim Künstlerischen zu bleiben: Das ist immer ein teilweise kontroverser, aber sehr interessanter und bedenkenswerter Austausch. Ich höre mir Christophs Meinungen und Interpretationsansätze immer wahnsinnig gern an, liebe es auch, ihm zu widersprechen – und finde das immer sehr spannend.
Christoph Spering: Ich persönlich finde, dass man sich eigentlich künstlerisch mehr austauschen könnte. Aber dafür ist meistens keine Zeit. Wenn man zurückdenkt an diese Salons im 19. Jahrhundert, das finde ich sehr interessant. Das wäre auch ein Ansatz gewesen in den letzten Jahren, einfach musikalische Freunde einzuladen. Oder auch Kritiker oder Rundfunkredakteure, um mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Natürlich alles fein dosiert. Aber musikalischer Austausch ist immer sehr gut für die Sache.
BR-KLASSIK: Wie haben Sie überhaupt Zugang zur Musik bekommen? Sie sind ja beide Dirigenten, Kirchenmusiker und Ensembleleiter geworden. Das kam vermutlich durch Ihr Elternhaus, das war ja eine Pfarrersfamilie?
Christoph Spering: Ja, das kann man so sagen. Unsere Eltern waren wahrscheinlich grundmusikalisch, aber nicht musikalisch ausgebildet. Sie spielten beide ein wenig Klavier und haben auch schön gesungen. Aber wir kommen ja vom Dorf, und unsere Eltern hatten auch keine Möglichkeit, in Chören aufzuwachsen. Unsere Mutter hat in Heidelberg studiert und sich nicht getraut, im Heidelberger Bachchor vorzusingen. Der wurde damals unter anderem von Dietrich Fischer-Dieskau als Gastdirigent geleitet. Sie hat immer mit Hochachtung davon gesprochen – und die hätten sie mit Kusshand genommen! Die konnte alles singen und hatte eine wunderbare Sopranstimme. Aber sie hat sich einfach nicht getraut. Sie war dann doch sehr schüchtern.
BR-KLASSIK: Haben Ihre Eltern Sie dann beide bei der Berufsentscheidung unterstützt?
Andreas Spering: Unterstützt wäre sehr euphemistisch gesagt. Nein, mein Vater hat immer gesagt: Du bist doch gar nicht so dumm, Du könntest doch was Anständiges lernen (lacht). Berufsmusiker zu werden, war nicht unbedingt das, was sie sich vorgestellt hätten. Sie haben uns aber auch keine Steine in den Weg gelegt. Ich bin ja ein bisschen jünger als Christoph und einfach meinem großen Bruder in die Fußstapfen gefolgt. Das war sehr hilfreich. Denn nachdem er die ersten Erfahrungen an der Kölner Musikhochschule gemacht und mitgekriegt hatte, was es heißt, vom Land in die große Welt zu kommen, hat er dafür gesorgt, dass ich noch vor dem Abitur die letzten Jahre ordentlichen Unterricht bekam. Was in dieser kleinen Stadt Simmern im Hunsrück, in der wir aufgewachsen sind, eigentlich de facto nicht möglich war.
BR-KLASSIK: Wie war denn die häusliche Übesituation? Sind Sie sich am Klavier in die Quere gekommen? Obwohl bei Ihnen beiden ja die Orgel zum Hauptinstrument wurde.
Christoph Spering: Ja, man übt immer zu wenig. Hat man schon damals getan. Ich hatte wirklich – Gott hab ihn selig – einen sehr schlechten, unambitionierten Lehrer und habe dann tatsächlich bei Andreas eingegriffen, dass er zu besseren Lehrern kam. Irgendwann habe ich begonnen, ernsthaft zu üben. Selbstverständlich übt man Orgel in der Kirche. Aber natürlich hatte man auch ein Klavier zu Hause, und als ich dann schon aus dem Haus war, hat Andreas immer Klavier geübt.
Das meiste lernt man nach dem Studium.
BR-KLASSIK: Gab es bei Ihnen beiden irgendwelche kritischen Phasen als Studenten, in denen Sie sagten: Ich schmeiße das hin?
Christoph Spering: Ich war ein wenig schockiert, weil ich eben nicht besonders gut ausgebildet war, als ich nach zwei Semestern Zivildienst machen musste. Also wurde ich aus dem Studium rausgerissen – aber das war mein großes Glück. Meine Lehrer haben mich weiter unterrichtet. So hatte ich dann etwas mehr Zeit und habe da auch sehr diszipliniert gearbeitet. Trotzdem würde ich sagen – ich denke, da würde Andreas vielleicht sogar zustimmen –, dass man das Meiste nach dem Studium lernt.
Andreas Spering: Ja, absolut. Gerade als Dirigent. Das ist ja ein komisches Studium oder eine komische Ausbildung, weil man kein Instrument hat – das wäre so, als wenn Sie als Pianist immer nur an einer stummen Tastatur üben oder sich eine Tastatur sogar nur vorstellen würden. Das lernt man tatsächlich erst in der Praxis.
BR-KLASSIK: Erstaunlich, dass Sie beide im Bereich der historischen Aufführungspraxis tätig waren und sind. Woher kamen da die Impulse?
Christoph Spering gründete die Ensembles "Chorus Musicus Köln" und "Das Neue Orchester". | Bildquelle: Stefanie Kunde
Christoph Spering: Das Ganze begann so, dass es tatsächlich in meinem Studium richtig verpönt war, wenn man sich für Nikolaus Harnoncourt interessierte – das ist heutzutage unfassbar. Aber es war wirklich so. Es tobte ja damals noch ein Kampf zwischen den Menschen mit alten Instrumenten und den Interpreten mit modernen Instrumenten. Nehmen Sie als konträres Beispiel nur Nikolaus Harnoncourt gegen Helmuth Rilling beim Einspielen von Bach-Kantaten. Aber Harnoncourt und Gustav Leonhardt haben sich letztlich durchgesetzt. Harnoncourt wurde ja tatsächlich in den letzten Jahren des 20. Jahrhunderts einer der wichtigsten impulsgebenden Dirigenten überhaupt für junge Musiker.
Als sich das dann auflöste und die sogenannte historische Aufführungspraxis – diesen Begriff mögen wir übrigens beide nicht besonders – in die Institutionen getragen wurde, da war klar, dass Harnoncourt gewonnen hatte im Richtungsstreit zwischen ihm gegen Karajan – um es mal im dirigentischen Bereich zuzuspitzen. Was man ja überhaupt nicht vergleichen kann, das ist fast etwas dümmlich, wenn ich das so sage. Aber trotzdem hat Harnoncourt nach Karajans Tod die großen Festivals aufgemischt.
BR-KLASSIK: Warum mögen Sie beide den Begriff der historischen Aufführungspraxis nicht besonders?
Andreas Spering: Weil ich gar nicht wüsste, bis wohin die gehen sollte. Es geht einfach darum, ein Musikstück so lebendig zu machen, wie es überhaupt nur sein kann. Die historische Aufführungspraxis hat vielleicht erstmal gelehrt, dass die Mittel der damaligen Zeit, sowohl das Instrumentarium als auch die Kenntnis der Artikulationsweisen und aller musikalischen Parameter tatsächlich am besten geeignet sind, um so ein Kunstwerk lebendig zu machen. Historisch aber kann diese Praxis nicht sein, weil es eine Aufführung für eine jetzige Situation ist.
Wenn wir wissen, dass eine Dissonanz stärker betont sein soll als die auflösende Konsonanz: Was bedeutet "stärker"? Was heißt das für heutige Ohren, die vermutlich viel stärker "verschmutzt" sind, als sie es im 18. und 19. Jahrhundert waren? Aber es geht ja darum, die Dissonanz erfahrbar zu machen. Wenn Mozart eine Aufführung von uns hören und erfahren würde, wie wir ein Sforzato machen, würde er vielleicht sagen: Was seid Ihr für geschmacklose Leute! Aber der Sinn dessen, was er wollte, den wir aus Quellen und aus seiner Musik erschließen können, den muss man in die heutige Zeit übertragen. Das historische Instrumentarium hilft bei sehr vielen Dingen, um das zu erreichen. Aber es geht um Aufführungen für die heutige Zeit – und nicht um ein klingendes Museum.
Christoph Spering: Immer schon gab es ja, um es etwas pauschal zu sagen, diese beiden Ansätze, also Toscanini als der Werktreue und Furtwängler als der aus dem Kunstwerk Schöpfende, der ja auch selbst Komponist war. Genauso sind wir bei unserem Musizieren davon überzeugt, dass die sogenannte historische Aufführungspraxis zwar immer Werktreue anpeilt, aber dass es zugleich eine musikalische Richtigkeit über die Noten hinaus gibt.
BR-KLASSIK: Erstaunlich fand ich doch, dass Sie beide eigene Ensembles gegründet haben, also Andreas Spering die Capella Augustina, Christoph Spering den Chorus Musicus Köln und Das Neue Orchester. Wie kam das? Das ist doch sehr auffällig.
Christoph Spering: Ich habe mit meinen damaligen musikalischen Freunden "Concerto Köln" gegründet – auf meinem Sofa. Den Namen hat Reinhard Goebel erfunden, und das war eine ganz große Erfolgsgeschichte, was auch wunderbar ist. Danach habe ich mich aber davon gelöst und irgendwann diesen Namen "Das Neue Orchester" erfunden. Und der Chorus Musicus war einfach ein Kammerchor, der gegründet sein wollte, in Köln im Bach-Jahr 1985, und das hat sich dann weiterentwickelt. Beide Ensembles gibt es noch, und wir sind auf historischen Instrumenten weit in die Romantik und die Spätromantik, bis zu Mahler- und Reger-Einspielungen vorgedrungen.
BR-KLASSIK: Andreas Spering, was war der Impuls damals, die Capella Augustina zu gründen?
Andreas Spering ist Gründer der Capella Augustina. | Bildquelle: Christian Palm
Andreas Spering: Da besteht doch ein ganz wesentlicher Unterschied zu Christophs Ensembles. Die Capella war eine Gründung, als ich 1996 die Brühler Schlosskonzerte übernommen hatte, sie ist sozusagen das Festivalorchester dort. Wir machen einige Gastspiele und haben auch CDs aufgenommen, aber im Wesentlichen ist das ein Orchester, das für dieses Festival gegründet wurde. Christoph ist ja mit seinen Ensembles viel internationaler unterwegs, das ist ja fast seine Hauptbeschäftigung. Während ich auch mit modernen Orchestern gearbeitet habe, also das lässt sich eigentlich nicht vergleichen. Der Stamm der Capella sind ehemalige Kollegen aus der Musica Antiqua Köln und auch Musiker, die ich aus dem Kölner Raum kenne. Köln hat ja einen unglaublich großen Pool an freien Musikerinnen und Musikern in diesem Bereich. Aber im Wesentlichen ist die Capella Augustina beschränkt auf dieses Festival.
BR-KLASSIK: Weil Sie sagten, Ihr Bruder sei viel internationaler unterwegs: Sind da im Zuge Ihrer beiden Karrieren auch Rivalitäten zwischen Ihnen beiden entstanden?
Andreas Spering: Nein, überhaupt nicht. Im Gegensatz zu Christoph bin viel mehr als er an ganz normalen Opernhäusern oder bei verschiedenen Symphonieorchestern zu Gast. Und das berührt sich nicht. Es ist eigentlich auch immer so gewesen: Wenn der eine ein Engagement terminlich nicht wahrnehmen konnte, haben wir dann versucht, dem anderen auszuhelfen.
Christoph Spering: Es ist ja genügend Platz auf der Welt, das ist gar kein Problem. Und es hat sich ja wirklich auch so herauskristallisiert. Ich sitze hier in Köln und habe viele Aufnahmen gemacht, gerade eben als Letztes einen ganzen Kantatenjahrgang von Bach. Das hat sich dann so über die Jahre entwickelt. Aber Andreas ist eigentlich überregionaler unterwegs, weil er wirklich viele Opernkontakte hat und Opern überall aufführt wie jetzt zuletzt in Lausanne.
BR-KLASSIK: Wenn Sie mal so auf Ihre Karrieren zurückblicken: Haben Sie sich da auch immer mal wieder ausgetauscht, haben Sie einander Ratschläge oder Tipps gegeben?
Christoph Spering: Ja, und ich finde das auch sehr gut. Ich meine, wenn Joana Mallwitz sagt, sie braucht 150 Stunden, um eine Mahler-Symphonie zu lernen, stimmt das zwar – aber ich war schon immer etwas bequemer. Als ich den "Titus" von Mozart dirigiert habe, den mein Bruder zwei Jahre vorher gemacht hatte, bin ich mit einer Flasche Wein zu ihm hingefahren und habe ihn gefragt: Sag mal, kannst Du mir sagen, welches die schweren Stellen sind? Er hat mir das innerhalb von einer halben Stunde erklärt, und das hat auch sehr geholfen. Das heißt nicht, dass ich mich nicht auch vorbereitet hätte. Aber es ist schon eine große Hilfe, wenn man dieselben Stücke lernt und da nachfragen kann.
Es ist schon eine große Hilfe, wenn man dieselben Stücke lernt und da nachfragen kann.
BR-KLASSIK: Andreas Spering, haben Sie auch was von Christoph gelernt?
Andreas Spering: Eine ganze Menge, vor allem in meiner Schulzeit, als Christoph Harnoncourts Aufnahmen ja nur heimlich unter der Bettdecke hören konnte. Aber die Höhepunkte meiner späten Teenager-Zeit, also noch vor dem Abitur, waren immer, wenn er freitags aus Köln zurückkam und aus der Stadtbibliothek diese damals braunen LP-Kassetten mit den neuen Folgen des Bachschen Kantatenwerks mitbrachte, eben in der Gesamtaufnahme von Nikolaus Harnoncourt und Gustav Leonhardt. Diese ersten Begegnungen mit historischer Aufführungspraxis, die habe ich ganz eindeutig ihm zu verdanken. Und auch, dass das überhaupt in diese Richtung bei mir gegangen ist. Das ist nicht allzu verwunderlich, weil für einen Organisten Bach natürlich die Zentralgestalt ist. Und in der Zeit war die historische Aufführungspraxis ja auch auf dem Vormarsch – aber im Hunsrück wäre ich ansonsten damit vermutlich kaum in Kontakt gekommen.
Sendung: "Allegro" am 18. März 2025 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK
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