Mahler total! Fast drei Wochen lang feiert die Stadt Leipzig ihren ehemaligen Opern-Kapellmeister, der dort in jungen Jahren knapp zwei Jahre verbracht hatte – mit allen zehn Symphonien, zahlreichen weiteren Werken und prominenten Gastorchestern aus Dresden und München, aus Wien, Budapest, Prag, Amsterdam und Birmingham. BR-KLASSIK ist im Radio und im Videostream live dabei.
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Eigentlich ist 2023 ja kein Mahler-Jahr, geboren wurde Gustav Mahler 1860 im böhmischen Kalischt, gestorben ist er 1911 mit fünfzig in Wien. Aber knapp zwei Jahre lebte der Kosmopolit in Leipzig – Grund genug für das dortige Gewandhaus, nach dem Mahler-Gedenkjahr 2011 ein weiteres Mahler-Festival zu stemmen. Eigentlich war ein Zehn-Jahres-Rhythmus geplant, aber dann grätschte auch hier Corona dazwischen. Nun ist es soweit: Vom 11. bis 29. Mai geben sich zehn Weltklasseorchester im Leipziger Gewandhaus die Klinke in die Hand, um Mahlers Symphonik nahezu komplett aufzuführen – für Mahler-Fans und solche, die es werden wollen.
Zu Beginn der zwei Jahre Mahlers in Leipzig herrschte zwischen ihm und dem ersten Kapellmeister Arthur Nikisch Rivilität. | Bildquelle: picture alliance / Everett Collection | Courtesy Everett Collection Zwar hat Gustav Mahler keine Oper komponiert, aber das Metier hat er von der Pike auf gelernt: Ab 1880 startet er vom österreichischen Bad Hall aus als Kapellmeister die Ochsentour durch die deutschsprachige Theaterprovinz. Nach Stationen in den Habsburger-Hochburgen Laibach und Olmütz, in Kassel und Prag wird Mahler im Juli 1886 zweiter Kapellmeister am Leipziger Stadttheater – neben dem tonangebenden Arthur Nikisch. Prompt kommt es mit dem fünf Jahre älteren Nikisch zu Rivalitäten – dem ersten Kapellmeister war eben das große Opernrepertoire vorbehalten. Mahler muss sich mit Wagners Frühwerken und Webers "Freischütz" begnügen. Kein Spaß für den 26-jährigen, erfolgsverwöhnten Mahler, wie er an einen Freund schreibt: "Ich kann mich nach der absolut dominierenden Stellung in Prag nicht mehr drein finden, als blasser Mond hier das Gestirn Nikisch zu umkreisen." Und an anderer Stelle äußert er über den Konkurrenten: "Mit seiner Person habe ich nie etwas zu tun; er ist kalt und verschlossen gegen mich – ob aus Eigenliebe oder aus Misstrauen – was weiß ich! Genug, wir gehen aneinander wortlos vorüber!"
Anfang 1887 erkrankt Nikisch schwer und fällt für ein paar Monate aus – und Mahler steht nun das gesamte Opernrepertoire offen: Endlich kann er auch in Leipzig Wagners "Ring", die "Meistersinger" und den "Tristan" dirigieren, Beethovens "Fidelio" oder Mozarts "Don Giovanni" – und zwar mit einem Spitzenensemble wie dem traditionsreichen Gewandhausorchester. Aber bald schlägt dem jungen Maestro von anderer Seite Ablehnung entgegen: Mahler war für seine schweißtreibende Probenarbeit berüchtigt. Sein Perfektionismus, seine Genauigkeit, Strenge und Ungeduld verschärften die Spannungen mit den Orchestermusikern. Dazu kam, dass er in Leipzig seine kompositorische Arbeit wieder aufnahm – und die Theaterarbeit vernachlässigte, was Mahlers Ansehen in der Stadt weiter schmälerte. Damals wie heute eine führende Musikmetropole mit einem berühmten Konservatorium und einem nicht weniger berühmten Orchester. Brahms, Bruckner, Tschaikowsky oder Richard Strauss – sie alle kamen Ende des 19. Jahrhunderts nach Leipzig, um ihre neuesten Kreationen von Arthur Nikisch dirigiert zu hören.
Symphonie Nr. 2: 18. Mai, ab 20 Uhr live im Radio auf BR-KLASSIK und 21. Mai, ab 16.50 Uhr als Videostream auf BR-KLASSIK
(Andris Nelsons, das Gewandhausorchester und der MDR Rundfunkchor)
Symphonie Nr. 4 und "Das Lied von der Erde": 19. Mai, ab 20 Uhr als Videolivestream auf BR-KLASSIK
(Tugan Sokhiev und die Münchner Philharmonikern)
Symphonie Nr. 7: 22. Mai, ab 20 Uhr als Videolivestream auf BR-KLASSIK
(Daniel Harding und das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks)
Symphonie Nr. 9: 23. Mai, ab 20 Uhr als Videolivestream auf BR-KLASSIK
(Iván Fischer und das Budapest Festival Orchestra)
In seiner knapp zweijährigen Leipziger Zeit vollendet Mahler seine in Kassel begonnene Erste Symphonie, um deren endgültige Form er anschließend lange gerungen hat: Erst als "Symphonische Dichtung in zwei Teilen" und fünf Sätzen konzipiert und nach Jean Pauls Roman "Titan" benannt, tilgt er den Titel später ebenso wie den an zweiter Stelle stehenden, lieblichen "Blumine"-Satz. Danach macht er sich gleich an eine neue Tondichtung mit dem Titel "Todtenfeier", die später zum Kopfsatz seiner Zweiten Symphonie, der sogenannten "Auferstehungssymphonie" wird. In Leipzig entstanden außerdem Vertonungen einiger Volksliedtexte aus der Sammlung "Des Knaben Wunderhorn" von Achim von Arnim und Clemens Brentano in der Fassung mit Klavierbegleitung.
Einen persönlichen Triumph beschert dem 27-jährigen Mahler am Pult des Gewandhausorchesters die postume Leipziger Uraufführung einer unvollendeten Oper von Carl Maria von Weber, "Die drei Pintos". Mahler selbst hatte die Skizzen vom Enkel des Komponisten erhalten, die Partitur mit unveröffentlichtem Material Webers ergänzt und mit eigenen Nachkompositionen im Stile Webers aufführungsreif gemacht. Eine neue Oper von Weber, eine heitere dazu, eine Verwechslungskomödie um den jungen Landadeligen Don Pinto und gleich zwei Doppelgänger, die alle drei um dieselbe Braut buhlen – das war eine Sensation im Leipzig des Jahres 1888!
Genau diese Episode führt aber letztlich zu Mahlers Abschied von Leipzig. Denn er hatte sich Hals über Kopf in eine Affäre gestürzt mit der Ehefrau von Webers Enkel, dem sie drei Kinder geboren hatte. Um einem Skandal zu entgehen, nimmt Mahler seinen Hut, wie Ursula Brekle in ihrem Essay "Gustav Mahler in Leipzig" zum Mahler-Fest 2011 berichtet: "Mahler bat um vorzeitige Entlassung und verließ nach 22 Monaten im Mai 1888 Leipzig, wo er zum Komponisten reifte und das Handwerk lernte, sich im spannungsvollen Theaterleben durchzusetzen. Sein Weg führt ihn an die Spitze des Musiklebens in der Welt." Die Leipziger Periode ist auch in Jörg Handsteins erster Hörbiografie "Gustav Mahler – Welt und Traum" berücksichtigt, die BR-KLASSIK zum 150. Geburtstag des Komponisten 2010 veröffentlicht hat, im 3. Kapitel "Fahrender Gesell – die Dirigentenkarriere".
Später fand Mahler übrigens zu einem kollegialen Umgang mit Arthur Nikisch. Sodass der nach Mahlers Tod im Mai 1911, da war Nikisch längst legendärer Gewandhauskapellmeister, an die Direktion schrieb: "Sollten wir nicht in einem unserer ersten Concerte auf Mahlers Tod Bezug nehmen?" Gesagt, getan – im November desselben Jahres setzte Nikisch beziehungsreich Mahlers monumentale Zweite in Leipzig aufs Programm, die sogenannte "Auferstehungssymphonie", und begründete damit die Mahler-Tradition des Gewandhausorchesters.
Andris Nelsons, derzeitiger Gewandhauskapellmeister, eröffnet und beschließt den Reigen der Mahler-Symphonien. | Bildquelle: © SF / Marco Borrelli Und die ist ab dem 11. Mai für knapp drei Wochen lebendiger denn je, wenn die Leipziger und neun Weltklasseorchester aus Dresden und München, aus Wien, Budapest, Prag, Amsterdam und Birmingham das symphonische Gesamtwerk Mahlers im Gewandhaus aufführen. Zum Auftakt des Leipziger Mahler-Festivals 2023 gibt es drei konzertante Aufführungen von Mahlers Weber-Bearbeitung der "Drei Pintos". Den Reigen der Symphonien eröffnet dann der aktuelle Gewandhauskapellmeister Andris Nelsons an Christi Himmelfahrt, also am Donnerstag, 18. Mai mit der vokalsymphonischen Zweiten – BR-KLASSIK überträgt das Event ab 20 Uhr live im Radio. Mit der gigantischen Achten, der sogenannten "Symphonie der Tausend" beschließen das hauseigene Orchester und ihr Chef sowie fünf Leipziger Chöre das Mahler-Festival an Pfingstmontag, 29. Mai. Mit von der Partie sind auch Pultstars wie Christian Thielemann und Semyon Bychkov mit ihren Orchestern, der Dresdner Staatskapelle und der Tschechischen Philharmonie.
Vier Konzerte präsentiert BR-KLASSIK auch im Video-Livestream, Beginn ist in der Regel um 20 Uhr. Am Freitag, 19. Mai gastiert Tugan Sokhiev mit den Münchner Philharmonikern im Gewandhaus und bringt mit einem namhaften Solistentrio die lyrische Vierte Symphonie und die kosmische Vokalsymphonie "Das Lied von der Erde" zur Aufführung. Am Sonntag, 21. Mai wird die zweite Aufführung der "Auferstehungssymphonie" unter Nelsons vom Vormittag bereits ab 16.50 Uhr live zeitversetzt gestreamt. Am Montag, 22. Mai machen Daniel Harding und das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks auf ihrer Europa-Tournee in Leipzig Station und musizieren wie zuvor in München die fünfsätzige Siebte, die Mahler um die beiden charakteristischen Nachtmusiken herum gebaut hat. Und am Tag darauf, am Dienstag, 23. Mai interpretiert Iván Fischer mit seinem Budapest Festival Orchestra die letzte vollendete Symphonie Mahlers, die Neunte mit ihrem finalen Abgesang von überwältigender Schönheit.
Auch die von Deryck Cooke komplettierte Zehnte Mahlers kann man übrigens in Leipzig erleben, mit Mirga Gražinytë-Tyla und dem City of Birmingham Symphony Orchestra. Und das MDR-Sinfonieorchester stellt unter seinem Chefdirigenten Dennis Russell Davies die frühe Kantate "Das klagende Lied" vor, wie "Die drei Pintos" eine Mahler-Rarität, die man in Leipzig kennenlernen kann. Und wer noch nicht genug hat von Mahler und vor Ort ist, dem bieten die Veranstalter Stadtrundgänge auf Mahlers Spuren etwa zu seinem Leipziger Wohnhaus, eine öffentliche Meisterklasse mit dem großen Mahler-Sänger Thomas Hampson, eine Schauspiel-Recherche zu den von Mahler vertonten "Kindertotenliedern" Friedrich Rückerts, eine Dichter-Lesung, Filmvorführungen, Vorträge von renommierten Mahler-Experten, Kammermusik-Abende, Mahler-Symphonien auf der Orgel, Nachtkonzerte mit dem Leipziger Vokalencemble amarcord oder dem Jazz-Pianisten Michael Wollny… Auf nach Leipzig!
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