Seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine hat Evgeny Kissin mehrfach deutlich Stellung bezogen. Musik mit "starken russischen Nationalelementen" lehnt der in Russland aufgewachsene Pianist ab. Diese Woche spielt er beim Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks Rachmaninows populäres Drittes Klavierkonzert – spieltechnisch gigantisch schwer und ein Meilenstein der russischen Klaviermusik mit nationaler Färbung. Für Kissin eine Gratwanderung, wie er im Interview verrät. Aber: Er hat eine Lösung gefunden.
Bildquelle: Felix Broede
BR-KLASSIK: Evgeny Kissin, das Dritte Klavierkonzert von Sergej Rachmaninow gilt als "Elefantenkonzert", weil es so anspruchsvoll ist. Es gibt sogar Berechnungen, dass es das Konzert mit den meisten Tönen pro Sekunde ist. Wie trainieren Sie, um dieses Werk spielen zu können?
Evgeny Kissin: Ich übe einfach nur das Stück, das ist alles. Es ist tatsächlich sehr schwierig, auch in technischer Hinsicht. Ich mache aber trotzdem nichts Besonderes, um meine Finger zu trainieren. Ich arbeite einfach an der Musik, die ich spiele – genauso viel, wie jedes Stück es erfordert.
BR-KLASSIK: Sergej Rachmaninow hat dieses Konzert 1909 geschrieben. Damals war die Lage im russischen Zarenreich schwierig. Es gab viel Unzufriedenheit. Glauben Sie, dass Rachmaninow politische Hintergedanken beim Schreiben hatte?
Evgeny Kissin: Ich habe noch nie davon gehört, dass es bei Rachmaninow so gewesen sein könnte. Aber er hat selbst zugegeben, dass er von Natur aus ein Pessimist war. Das kann man auch in vielen seiner Stücke hören – einschließlich dieses Konzerts, vor allem in den ersten beiden Sätzen. Es ist erfüllt von Dramatik und Tragik.
Das Konzert mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks und Evgeny Kissin wird am Freitag, 3. November 2023 ab 20.05 Uhr live bei BR-KLASSIK übertragen – im Radio und als Videolivestream. Auf dem Programm steht das Dritte Klavierkonzert von Sergej Rachmaninow.
Ich habe gespürt, dass ich nicht schweigen darf.
BR-KLASSIK: Herr Kissin, lange galten Sie menschlich als zurückhaltend und schüchtern. Seit dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine ist das anders – Sie waren einer der ersten, der sich sehr deutlich gegen Russland positioniert haben: Was ging damals in Ihnen vor?
Evgeny Kissin: Ich habe einfach gespürt, dass ich nicht schweigen darf, sondern dass ich in die ganze Welt hinausschreien muss, dass ich an das Gewissen und an den gesunden Menschenverstand der Politikerinnen und Politiker und den der Bürgerinnen und Bürger appellieren muss. Was am 24. Februar 2022 begonnen hat, ist absolut schrecklich. Und all das dauert bis heute an.
BR-KLASSIK: Die politische Lage weltweit ist aktuell sehr instabil. Es gibt viele gewaltsame Konflikte. Inwiefern beeinflusst das Ihr Leben als Künstler?
Evgeny Kissin | Bildquelle: SF/Marco Borrelli Evgeny Kissin: Im letzten Frühjahr, als ich ein neues Soloprogramm einstudierte, habe ich mich dazu entschieden, Debussys "Estampes" durch Chopins fis-Moll-Polonaise zu ersetzen. Wir wissen, dass Frédéric Chopin sich gegen die Imperialisten auflehnte, die sein Land kolonialisierten. Man kann mit Sicherheit sagen, dass viele von Chopins Werken, einschließlich seiner fis-Moll-Polonaise, davon handeln. Also nahm ich sie in mein Programm auf. Beim Spielen dachte ich darüber nach, was in der Ukraine vor sich geht. Und dann hatte ich vor ein paar Jahren in Asien eine Solo-Rezital-Tournee. Dort habe ich unter anderem die Dritte Klaviersonate von Robert Schumann gespielt. Der dritte Satz ist ein Thema mit Variationen. Das Thema hat Clara Schumann geschrieben, und das ganze klingt wie ein Trauermarsch. In dieser Zeit passierten viele tragische Dinge auf der ganzen Welt. Ich erfuhr von dem brutalen Mord an dem Journalisten Jamal Khashoggi durch die Saudis. Am nächsten Tag habe ich von dem Massaker in der Synagoge von Pittsburgh erfahren. Und dann, während ich diesen Satz interpretierte, dachte ich an all diese armen Opfer. Ich spielte die Musik zu ihrer Erinnerung.
BR-KLASSIK: Und wie geht es Ihnen jetzt, wenn Sie das dritte Klavierkonzert von Rachmaninow spielen?
Evgeny Kissin: Das ist eine schwierige Sache, weil diese Musik ein sehr starkes, offensichtlich russisches Nationalelement hat. Als ich vor einer Weile anfing, es vorzubereiten, während der Krieg tobte, hatte ich ein seltsames Gefühl. Das musste ich erstmal überwinden. Ich dachte, vielleicht sollte ich daran denken, dass das, was passiert, nicht nur eine Tragödie für die Ukraine ist, sondern auch für Russland. Genauso wie der Nationalsozialismus auch eine Tragödie für Deutschland war, nicht nur für seine Opfer aus und in anderen Ländern. Ich erinnerte mich an Pushkins Worte, die er nach dem Lesen von Gogols "Die Toten Seelen" sprach: "Mein Gott, wie traurig Russland ist." Das größte Problem für mich war das Finale.
Diese Musik hat ein starkes russisches Nationalelement.
Evgeny Kissin: Das Finale ist sehr russisch, aber es hat gleichzeitig einen sehr kämpferischen Geist und endet siegreich. Ich spürte, dass die Musik angesichts der aktuellen Situation fehlinterpretiert werden könnte. Deshalb wollte ich die Musik einfach nur so spielen, wie sie geschrieben ist – ohne Verbindungen zur gegenwärtigen politischen Situation herzustellen. Aber dann habe ich mich daran erinnert, dass es zwei russische, militärische Organisationen gibt, die zusammen mit der ukrainischen Armee kämpfen. Eine Organisation heißt "Legion Freiheit Russlands" und die andere heißt "Russisches Freiwilligenkorps". Sie kämpfen an der Seite der ukrainischen Armee gegen die russische Armee. Wenn ich jetzt das Finale dieses Konzerts spiele, denke ich an sie. Natürlich wäre es logisch, sich am Ende des Finales die zukünftige Niederlage von Putins Tyrannei vorzustellen. Aber um ehrlich zu sein, habe ich keine Hoffnung, dass so etwas in absehbarer Zukunft passieren könnte.
YouTube-Vorschau - es werden keine Daten von YouTube geladen.
Evgeny Kissin - Rachmaninov: Preludes, Op. 32, No. 12 in G-sharp minor, Allegro
BR-KLASSIK: Haben Sie Verständnis für Künstlerinnen und Künstler, die keine russischen Werke mehr aufführen möchten?
Evgeny Kissin: Ich verstehe sehr gut, wenn ukrainische Musikerinnen und Musiker derzeit keine russischen Werke spielen oder sogar hören können. Ich verstehe auch polnische Menschen, die genauso empfinden. Wie gesagt: Auch ich, der ich in Russland aufgewachsen ist, hatte ein seltsames Gefühl, als ich mit der Vorbereitung des dritten Klavierkonzertes von Sergej Rachmaninow begonnen habe. Wobei ich hier unterscheide: Ich lehne nicht die gesamte russische Musik ab, sondern nur jene Kompositionen, die ein starkes russisches Nationalelement haben – so wie zum Beispiel dieses Konzert. Wenn ich dagegen das e-Moll-Trio von Dmitrij Schostakowitsch spiele, habe ich überhaupt kein solches Gefühl. Im Gegenteil. Ich empfinde es als sehr passend, es gerade jetzt aufzuführen, weil es sehr tragisch ist. Es beschreibt eine totale Tragödie, Dunkelheit, und Hilflosigkeit. Ein komplett schwarzes Stück sozusagen.
BR-KLASSIK: Wünschen Sie sich, dass mehr Musikerinnen und Musiker öffentlich Stellung beziehen?
Evgeny Kissin: Natürlich wäre das sehr gut, aber man kann niemanden dazu zwingen. Es hängt von jeder einzelnen Person ab, von ihren Eigenschaften und Neigungen. Manchen Menschen liegt es einfach nicht, sich öffentlich zu äußern, aber sie tun dafür anderes. Zum Beispiel mein wunderbarer Kollege Grigory Sokolov. Soweit ich weiß, hat er keine öffentlichen Erklärungen abgegeben, aber er hat Konzerte zur Unterstützung der Ukraine gespielt und ich glaube, er ist sogar nach Kriegsbeginn in die Ukraine gereist, um ein Konzert zu geben. Also hat er auf seine eigene Weise einen Beitrag geleistet.
Lesen Sie hier ein ausführliches Interview von Evgeny Kissin zu seiner Haltung gegenüber Russland und wie er den Angriffskrieg thematisch in einer neuen Komposition verarbeitet.
BR-KLASSIK: Gibt es in Ihnen auch Momente, in denen Sie denken, Musik hat gar keinen Sinn angesichts dieser heftigen politischen Entwicklungen?
Evgeny Kissin: Ja, wie wir wissen, kann Musik auf verschiedene Arten verwendet werden. Sie kann für gute Zwecke, aber auch für böse Zwecke genutzt werden. Das konnte man ja gerade auch in Deutschland sehen. Die Nazis haben die deutsche Musik für ihre Zwecke missbraucht, insbesondere die Musik von Richard Wagner. Wie Musik eingesetzt wird, hängt von jedem Einzelnen ab. Ich mache mir da keinerlei Illusionen. Ich tue, was ich kann. Auch in Russland haben die Kommunisten die Musik mißbraucht. Und es ist nicht lange her, dass sich einige prominente russische Künstlerinnen und Künstler zu Lakaien von Putins Regime degradiert haben. Putin hat sie für seine üblen Zwecke eingesetzt, und sie haben es mit sich machen lassen.
BR-KLASSIK: Sie haben nach dem schrecklichen Angriff der Hamas ein Facebook-Video gepostet, wo Sie sich ebenfalls sehr deutlich positionieren. Viele Menschen haben Ihren Beitrag kommentiert. Haben Sie keine Angst davor, mit solchen Posts eine Welle der Diskussion anzustoßen und vielleicht auch missverstanden zu werden?
Evgeny Kissin: Ich bin eine öffentliche Person und ich nutze diese Position, um mich zu äußern. Israel ist mein Land. Nach diesem schrecklichen Massaker konnte ich nicht schweigen. Andererseits ist Russland das Land, in dem ich geboren und aufgewachsen bin. Als Jude kenne ich seit meiner Kindheit den russischen Fremdenhass nur allzu gut. Als Russlands Invasion in die Ukraine in vollem Umfang deutlich wurde und die ukrainischen Menschen zu den größten Opfern des russischen Fremdenhasses wurden, fühlte ich eine starke Solidarität mit ihnen.
Israel ist mein Land.
Evgeny Kissin hat jüdische Wurzeln und wuchs in Russland auf. Den Antisemitismus bekam er dort schon als Kind zu spüren. | Bildquelle: picture-alliance/dpa Evgeny Kissin: Öffentliche Personen können andere Menschen beeinflussen. Natürlich ist es nicht garantiert, dass es klappt, aber die Möglichkeit besteht. Also tue ich mein Bestes. Jedoch: Ich äußere mich öffentlich nur zu Themen, die ich gut kenne. Zu Russland, Israel oder zum Konflikt in Karabach. Da weiß ich sehr gut, was abläuft. Deshalb spreche ich öffentlich darüber. Bei Sachverhalten, wo ich nicht qualifiziert bin, halte ich mich zurück. Denn ich bin mir der großen Verantwortung bewusst, die ich habe, wenn ich mich öffentlich positioniere. Wir wissen aus der Erfahrung des letzten Jahrhunderts, dass viele Künstlerinnen und Künstler leider die falsche Seite gewählt und entweder den Nationalsozialismus oder den Kommunismus unterstützt haben. Deshalb habe ich viele Jahre lang darauf verzichtet, öffentlich über Politik zu sprechen.
BR-KLASSIK: Sie äußern sich nicht nur sprachlich über die aktuellen Weltgeschehnisse, sondern auch musikalisch. So haben Sie etwa nach Ausbruch des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine ein Klaviertrio über den Krieg in der Ukraine komponiert …
Evgeny Kissin: Als Kind habe ich viel komponiert. Eines Tages war aber Schluss, und ich hörte keine Musik mehr in meinem Kopf. Vor etwa zehn Jahren verspürte ich dann wieder den Drang, Stücke zu schreiben. Also habe ich wieder mit dem Komponieren begonnen. Die entstandenen Werke wurden vom Henle Verlag veröffentlicht. Was das Klaviertrio betrifft: Nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine, hatte ich einfach das Gefühl, dass ich alles tun sollte, was ich in meinen Möglichkeiten steht. Da ich nicht als Soldat qualifiziert bin und außerdem zu alt, um eine Waffe in die Hand zu nehmen, habe ich Musik für die Ukraine geschrieben. So ist das Trio entstanden.
YouTube-Vorschau - es werden keine Daten von YouTube geladen.
Piano Trio op.6 by Evgeny Kissin
BR-KLASSIK: Werden Sie nun auch über die aktuelle Situation in Israel ein Stück schreiben?
Evgeny Kissin: Zugegebenermaßen hatte ich bereits eine Idee dazu in meinem Kopf – genauso wie damals nach Aliyevs Angriff auf Karabach und auf fast alle Armenier, die von dort geflohen waren. Aber ich hatte einfach keine Zeit, um diese Gedanken zu verwirklichen, weil ich die ganze Zeit auf Tournee war. Meine Tournee geht auch noch anderthalb Monate weiter.
BR-KLASSIK: Und wenn die Tournee vorbei ist, machen Sie sich an die Arbeit?
Evgeny Kissin: Wir werden sehen, wie sich die Dinge bis dahin entwickeln.
BR-KLASSIK: Wie komponieren Sie eigentlich – am Klavier oder am Schreibtisch?
Evgeny Kissin: Ich komponiere ohne Instrument. Nur selten, wenn ich etwas überprüfen muss, setze ich mich kurz ans Klavier. Die Sache ist die: Meine Hauptbeschäftigung ist das Klavierspielen. Deswegen kommen ich nur sporadisch zum Komponieren. Letztes Jahr hatte ich eine Sehnenentzündung in der Schulter und musste einige Konzerte absagen. Genau das hat mir die Gelegenheit verschafft, mein Klaviertrio zu vollenden.
Sendung: "Leporello" am 3. November 2023 um 16:05 Uhr auf BR-KLASSIK
Kommentare (0)