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75 Jahre G. Henle Verlag Urtext & moderne App

Vor 75 Jahren hat der gebürtige Würzburger Günter Henle in München einen Musikverlag gegründet, der sich über die Jahrzehnte zu einem der weltweit führenden Klassikverlage entwickelt hat. Wo steht der Verlag heute? Und was braucht er, um in der Klassik-Nische attraktiv zu bleiben? Darüber spricht der Geschäftsführende Verlagsleiter Wolf-Dieter Seiffert.

Bildquelle: © G. Henle Verlag

75 Jahre G. Henle Verlag - Galakonzert

Interview mit Wolf-Dieter Seiffert

BR-KLASSIK: Herr Seifert, um gleich mal ein Bild zu haben: Henle-Noten, das waren immer die mit dem taubenblauen Deckblatt. Das ist heute immer noch so?

Wolf-Dieter Seiffert: Ganz genau, immer noch. Das hat Günter Henle so begonnen, und das halten wir bis heute so.

BR-KLASSIK: Wenn Sie in einem musikbegeisterten Haushalt eingeladen sind, ertappen Sie sich dann manchmal dabei, dass Sie schauen, ob da vielleicht Klavier- oder andere Noten liegen?

Wolf-Dieter Seiffert: Aber natürlich, ich schaue immer genau hin, was da liegt. Und es ist auch so wunderbar – egal, wo ich auf der Welt Musiker treffe und mich dann oute: "Oh, der Henle-Verlag, wunderbare Noten. Ich habe schon so viel Noten von Ihnen." Das ist einfach ein wunderbares Gefühl, wenn man in einem solchen Verlag arbeiten darf.

Was bedeutet "Urtext"?

BR-KLASSIK: Das Konzept des Henle-Verlags ist die Bereitstellung von sogenannten Urtextausgaben. Damit unterscheidet sich der Henle-Verlag auch von anderen Verlagen. "Urtext" – was heißt das, Herr Seifert?

Noten von G. Henle | Bildquelle: Tobias Stosiek Taubenblau sind die Urtet-Ausgaben des Henle Verlags | Bildquelle: Tobias Stosiek Wolf-Dieter Seiffert: Zunächst einmal: Wir unterscheiden uns tatsächlich fundamental. Wir sind nämlich der einzige Musikverlag der Welt im Bereich klassischer Musik, der ausschließlich urheberrechtsfreie Werke macht. Das ist die Basis des sogenannten Urtextes. Alle anderen Kollegen-Verlage haben mindestens zur Hälfte oder mehr Einnahmen aus Verwertungsrechten der GEMA von noch urheberrechtlich geschützter Musik. Das haben wir nicht, weil Günter Henle den Verlag 1948 gegründet hat mit der einzigen Bedingung, dass wir ausschließlich Komponisten, die großen klassischen Komponisten, ins Programm nehmen, die mindestens 70 Jahre tot sein müssen, also urheberrechtlich frei. Und der Urtext ist ein etwas unscharfer Begriff. Ich sage immer gerne, durch den Henle-Verlag ist das auch ein Marketingbegriff geworden für sehr gute Notenausgaben.

Es ist ein Abkratzen von nicht authentischen Überlagerungen.
Wof-Dieter Seiffert

Wolf-Dieter Seiffert: Und dann ist es auch eine philologische Methode. Wir Herausgeber geben nämlich nicht irgendwelche Noten im Druck wieder, sondern wir gehen zurück zu den Anfängen der Komposition. Was hat der Komponist geschrieben? Was haben Kopisten abgeschrieben in der Zeit des Komponisten? Was wurde gedruckt? Das sind die sogenannten primären Quellen. Die besorgen wir uns – sofern wir drankommen – vergleichen, Staccatopunkt für Staccatopunkt, Zeichen für Zeichen, um dann daraus einen – wie wir glauben – absolut korrekten und dem Willen und Wunsch des Komponisten entsprechenden Notentext zu erstellen. Also wenn Sie so wollen: Urtext ist eine Methode, um einen optimalen Notentext zu konstruieren, den der Komponist im Zweifel so nie gesehen hätte. Und ich sage immer gerne, wir würden uns umarmen, die Komponisten, wenn sie noch könnten.

Mozart durch Czernys Brille

BR-KLASSIK: Das heißt, die Notenausgaben sind auch frei von Überlagerungen, die nachher dazugekommen sind?

Zeitgenössisches Porträt des österreichischen Komponisten und Klavierpädagogen Carl Czerny. | Bildquelle: picture-alliance/dpa Im 19. Jahrhundert war es völlig, dass Virtuose wie Carl Czerny den Notentext der klassischen Komponisten veränderten. | Bildquelle: picture-alliance/dpa Wolf-Dieter Seiffert: Exakt, das ist jetzt die Ex-negativo-Definition. Warum hat Günther Henle überhaupt diesen Verlag gegründet? Ist es nicht selbstverständlich, dass Verlage das drucken, was die Musiker komponieren? Nein, im 19. Jahrhundert, der Zeit der reisenden Virtuosen empfanden diese Künstler wie Bülow, Czerny, Liszt, Busoni usw. ein Desiderat in der Notenüberlieferung. Es fehlten häufig dynamische Angaben in diesen Primärquellen, den frühen Drucken. Es fehlte Artikulation. Und manchmal hatte man auch den Eindruck: "Ach, da ist ein falscher Ton. Den korrigiere ich mal." Und so wurde über die Jahre und Jahrzehnte der originale Text immer mehr überlagert und überdeckt mit fremden Zutaten. Das führte dazu, dass man gegen Ende des 19. Jahrhunderts nicht mehr Mozart spielen konnte, sondern nur Mozart durch die Brille von zum Beispiel Czerny, also Czernys Interpretation von Mozart. Und das hat Günter Henle zu Recht so gestört, dass er gesagt hat: Das kann doch nicht wahr sein, dass wir gar nicht mehr wissen, was der Komponist wollte. Die Musiker kriegen nur das angeboten, was sozusagen seine Interpreten wollen. Und da gehen wir mal zurück und schauen, was der Komponist wollte. Es ist ein Abkratzen der Überlagerungen, die einfach nicht authentisch sind.

BR-KLASSIK: Herr Seifert, wenn man sich die Verlagsarbeit im klassischen Sinne im Musiksektor anschaut, können Sie uns kurz skizzieren, was da alles dazugehört?

Wolf-Dieter Seiffert: Das ist eine berechtigte Frage. Wenn wir hier von klassischer Musik und Noten, aus denen Musiker in Konzerten spielen, reden, dann ist es eine unglaubliche Nische im Bereich Musikverlag. Es ist eigentlich wie ein dürres Ästchen an dem riesigen Baum der Musikverlage. Musikverlag heute meint eigentlich die U-Musik. Das sind Majors und Indies, wie das immer so nett genannt wird, die Milliardenumsätze mit Pop- und Unterhaltungsmusik machen. Und was wir tun, ist noch etwas sehr Konventionelles, Konservatives, was es eben schon vor 500 Jahren gab. Wir drucken Noten und geben Musikern diese Noten, um daraus zu musizieren. Das sind die wesentlichen Unterschiede. Und der Henle-Verlag ist eben eine besondere Orchidee: Wir drucken ja nicht mal Noten von zeitgenössischen Komponisten.

Klicktipp

Lesen Sie hier, wie das Armida Quartett mit der Henle App an Mozart arbeitet.

Zukunft der Klassik – China und USA

BR-KLASSIK: Können Sie an den Verkäufen Ihrer Noten ablesen, dass das Interesse für klassische Musik in den letzten Jahren gesunken ist? Dass die Menschen vielleicht weniger klassische Musik machen?

Wolf-Dieter Seiffert: Das kann ich so pauschal nicht beantworten. Von der Tendenz her haben Sie Recht. Es wird weniger. Und das hat verschiedene Gründe. Der Markt ist noch recht stabil, wenn wir nach Europa schauen, aber Tendenz sinkend. Die Absatzzahlen fallen insbesondere in Europa. Und ich erwarte auch in wenigen Jahren entsprechende Tendenzen in Korea, Japan, Hongkong. Und das liegt daran, dass es einfach viel zu wenig Nachwuchs gibt, viel zu wenig Kinder. Wir reden von gesättigten Märkten. Ich weiß nicht, wie es bei Ihnen zu Hause war. Aber in der Regel haben in einem musikinteressierten Haushalt schon der Vater, der Großvater, die Oma, die Tante und so weiter musiziert. Und die haben Noten im Schrank. Und das gilt jetzt für den chinesischen Markt nicht. Da sind wir in einem enormen Wachstumsmarkt. Und meine Prognose ist, dass wir in wenigen Jahren uns sehr freuen werden an unseren chinesischen Kunden. Ich komme gerade von der großen Messe in Shanghai. Die langsamen Rückgänge in Europa und in anderen asiatischen Ländern werden überkompensiert werden mit der Nachfrage aus China. Und es gibt noch einen zweiten Markt, der jedenfalls dem Henle-Verlag immer noch sehr große Freude macht: Die USA ist mit Abstand der Markt, in dem die meisten Henle-Noten verkauft werden.

Social Media für jüngere Klassikfans

BR-KLASSIK: Was machen Sie, um jüngere Klientel zu binden? Stichwort Social Media.

Wolf-Dieter Seiffert: Ganz genau. Das war eine ganz entscheidende Wende. Wir müssen an die jüngeren Musiker anders herantreten als noch vor 20, 30 Jahren, als wir Schwarz-Weiß-Anzeigen in Fachmagazin geschaltet haben. Die Zeiten sind vorüber. Das lesen diese jungen Künstler oder die Studierenden nicht mehr, oder auch die Amateure, die einfach gerne Musik machen. Die bewegen sich auf Social Media. Und da bin ich doch recht stolz. Wir sind der klassische Musikverlag, obwohl wir so klein sind im Konzert dieser großen Verlage, der mit Abstand die meisten Followerzahlen hat – auf Instagram oder Facebook. Ich kann nur staunen, was die Kollegen hier verpassen.

Henle Library App – Fingersätze von Artur Schnabel & Co

BR-KLASSIK: Sie haben eine App entwickelt. Was kann die?

Wolf-Dieter Seiffert: Die App haben wir vor sieben Jahren entwickelt. Und sie geht – wenn ich das so sagen darf – durch die Decke. Die Nachfrage nach diesen digitalen Noten ist gewaltig – insbesondere in den beiden von mir schon positiv genannten Märkten, den USA und China. Die App bietet das gesamte Henle-Programm komplett ab. Sie lesen die Noten auf einem Tablet, auf einem Bildschirm, hochauflösend, extrem schnell zu blättern, wie Sie es nie mit der Hand machen könnten, hin und zurück und zwar ausdifferenziert nach Stimmen und Stücken. Anders als bei Papier – nehmen wir als Beispiel "Das Wohltemperierte Klavier" – das müssen Sie bei uns komplett erwerben. Das kostet so gut 30 Euro. Aber vielleicht will der Schüler oder der Lehrer nur die c-Moll-Fuge spielen. Die können Sie in der App ganz gezielt für einen Spottpreis erwerben. Das sind große Vorteile, abgesehen mal vom mobilen. Das ist aber noch nicht alles. Wir bieten zusätzlich zu den Notentexten des Henle-Verlags eben auch sogenannte Features an, eine ganze Menge an urdigitalen Angeboten, die der Druck eben nicht kann. Das meistgenutzte Feature sind die Fingersatz- und Strichangaben, die man über den nackten Urtext legen kann. Im Druck haben Sie in der Regel einen gedruckten Fingersatz. Im Vorwort auf der ersten Seite steht, wer den Fingersatz verantwortet.

Screenshots der Henle-Urtext-App | Bildquelle: Henle-Verlag Screenshot der Henle-Urtext-App: Bachs Cello-Suiten | Bildquelle: Henle-Verlag In der App haben Sie diesen Fingersatz, aber Sie können Ihn auch einfach wegklicken, dann haben Sie keinen Fingersatz. Oder Sie nehmen den von Artur Schnabels oder Augustin Hadelich. Das ist das Feature, was sehr viele Studierende interessiert, aber auch Professoren und Lehrer. Ein anderes Feature ist: Sie können in der Kammermusik springen – zwischen Ihrer Stimme und der Partitur, einfach indem Sie auf den Takt draufklicken. Das ist beim Proben natürlich ein unglaublicher Zeitgewinnen, den Sie da haben. Oder mit zwei Fingern springen sie zurück zum Wiederholungszeichen. Wir wollen den Musikern das Leben so bequem wie möglich zu machen. Die Henle Library App ist die einzige App eines klassischen Musikverlags, die überlebt hat und eine enorme Nachfrage hat. Wir sind inzwischen bei 75.000 registrierten Musikern.

Kontakt zu den großen Stars

BR-KLASSIK: Herr Seifert, haben Sie eigentlich in ihrem Berufsalltag auch mal mit Klassikstars zu tun und nicht nur mit den Noten, die dann von diesen Stars verwendet werden?

Wolf-Dieter Seiffert: Ja, ganz viel. Ich bin ein Konzert-Fanatiker. Ich gehe wahnsinnig gerne in Live-Musik, habe unheimlich viele CDs, aber ich höre sie eigentlich nicht. Ich brauche diese Musik in Konzertatmosphäre. Und das nutze ich natürlich auch für meinen Verlag. Ich gehe nach dem Konzert backstage. In der Regel ist die Reaktion, wie ich vorher schon sagte. Und dann habe ich schon eine wunderbare Brücke. Daraus sind etliche wunderbare Freundschaften entstanden – zum Beispiel mit Evgeny Kissin, András Schiff oder Murray Perahia. Das ist eines der großen Alleinstellungsmerkmale im Henle Verlag, dass wir sehr wohl wissen, dass unsere ganze Daseinsberechtigung die ist, dass diese großartigen Musiker und natürlich auch die Lehrer aus hervorragenden Noten spielen sollen, und dass sie uns das auch zurückgeben, indem sie sich zum Beispiel als Botschafter des Henle Verlags fotografieren lassen.

BR-KLASSIK: Sie spielen selber Klavier. Was liegt denn da gerade aufgeschlagen zu Hause?

Wolf-Dieter Seiffert: Ich bin immer mehr ein Scarlatti-Fanatiker. Ich habe alle vier Bände des Henle Verlags mit den ausgewählten Scarlatti-Sonaten. Ich gehe die durch von vorne bis hinten und bin unglaublich beeindruckt. Außerdem spiele ich sehr viel Bach. Ich bin ein Amateur, ich kann nicht fehlerfrei spielen, aber ich spiele mit ganz, ganz großer Freude.

Galakonzert – 75 Jahre G. Henle Verlag

Freitag, 3. November 2023, 19 Uhr
München, Prinzregententheater

u.a. mit Grigory Sokolov, Frank Peter Zimmermann, Nils Mönkemeyer, Julian Steckel

Münchener Kammerorchester
Christoph Poppen, Leitung

Alle Künstler musizieren ohne Gage. Die gesamten Ticketeinnahmen des Benefizkonzerts gehen an den Kulturkreis der deutschen Wirtschaft im BDI e. V. sowie an die Deutsche Stiftung Musikleben.

Sendung: "Allegro" am 31. Oktober 2023 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK

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Samstag, 04.November, 09:50 Uhr

Bernhold Schmid

Danke für das schöne Interview!

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