Es hätte ganz anders kommen können. Ursprünglich wollte Grigory Sokolov Dirigent werden. Mit vier Jahren stand er vor dem Plattenspieler und dirigierte, was die elterliche Plattensammlung so hergab. Dann wurde er fünf, bekam ein Klavier und war für das Pult verloren. Die Tasten beherrscht Grigory Sokolov so fabelhaft, dass er zu den größten Pianisten unserer Zeit zählt. Am 18. April feiert er seinen 75. Geburtstag.
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Am Ende ist das Votum eindeutig: Grigory Sokolov gewinnt 1966 den ersten Preis des renommierten Tschaikowsky-Wettbewerbs in Moskau – mit nur sechzehn Jahren. Allerdings erst nach Intervention des Juryvorsitzenden. Das war damals kein Geringerer als Emil Gilels, der russische Klaviergroßmeister. Das Publikum hat einen anderen Favoriten. Doch Gilels – dieses "Weltphänomen", wie Sokolov ihn später nennen wird – setzt sich durch. Er wird Recht behalten. Schließlich ist Sokolov, der damals sechzehnjährige, hamsterbäckige Junge, heute selbst ein Weltphänomen.
Grigory Sokolov erhält den ersten Preis beim dritten internationalen Tschaikowsky-Wettbewerb im Jahr 1966. | Bildquelle: picture alliance/Aleksandr Nevezhin//dpa
Der Weg dahin war lang. Woran nicht nur der Eiserne Vorhang schuld gewesen sein dürfte. Zwar spielt Sokolov ab den Neunzigern regelmäßig im westlichen Ausland. Trotzdem bleibt er ein Geheimtipp, öffentlichkeitsscheu, lässt sich nicht vereinnahmen. Schon gar nicht von den Medien. Interviews mit ihm sind rar. Dabei ist er ein unheimlich wacher, pointierter Gesprächspartner, mit Sinn für druckreife Antworten in fabelhaftem Deutsch, wie Archivaufnahmen zeigen: Oft werde er gefragt, wie viele Stunden er täglich am Klavier verbringe, erzählt er als 50-Jähriger. "Meine Antwort lautet immer: 24. Denn 'Üben' meint nicht, wieviel Sie spielen, sondern ob es im Kopf klingt."
Sokolov ist ein pianistischer Absolutist, für den das Spielen nicht Beschäftigung, sondern Lebensform ist. Das zeigt schon sein Auftritt. Obwohl – Sokolov tritt eigentlich nicht auf. Eher hastet er ans Klavier, scheinbar blind fürs Publikum, rutscht auf den Hocker, krümmt sich gnomenhaft über die Tastatur. Und macht Musik. Völlig versunken. Fast verkapselt. Hier spielt kein Kommunikator, sondern ein Künstler, dessen Charisma ganz aus der Konzentration rührt.
Das Publikum sei zwar wichtig, so Sokolov, "aber gleichzeitig kann man ein wenig grob sagen: Ob das Publikum gut oder schlecht ist, das ist ganz egal. Denn das Aktive, das kommt von mir." Und was da von ihm kommt, das ist so erstaunlich, so jenseits all dessen, was man von anderen Pianisten gewohnt ist, dass der eigene musikjournalistische Vokabelkasten plötzlich schrecklich mager erscheint: So unendlich sensibel ist Sokolovs Anschlag, so eigenwillig, witzig seine Akzente, so völlig durchsichtig seine Stimmführung, so gestochen scharf die Phrasierung.
Das Aktive, das kommt von mir.
Fast schon ein Markenzeichen sind Sokolovs rasant surrende Triller – wie Hummeln im Glas. Kein anderer Pianist bringt etwa Couperin oder Rameau so zum Leuchten; beschert dem Hörer so leichthändig eine Farbexplosion im Ohr; erweckt den Flügel, diesen mechanischen Koloss, derart zum Leben wie er.
Solidaritätskonzert gegen Krieg und Verfolung: Der Pianist Pawel Kushnir starb im Sommer in einem russischen Gefängnis bei seinem Hungerstreik gegen den Krieg in der Ukraine. Die Pianisten Grigory Sokolov und Sergei Babayan planen ein solidarisches Gedenkkonzert in Paris.
Mit virtuosem Auftrumpfen hat das wenig zu tun: schillernde Details ja, aber nur, wenn sie ins Konzept passen. Sokolov hat einen Plan. Immer. Da ist jeder Akzent, jeder Ton überlegt, bewusst gesetzt. "Das Aktive, das kommt von mir." Dieser Satz drückt nicht nur sein Verhältnis zum Publikum aus. Es beschreibt sein Klavierspiel im Kern. Sokolov ist Macher, nicht Medium. Die Lässigkeit, mit der etwa der alte Horowitz seinen Schubert in die Tasten tupfte, ganz so als würden die Töne eher ihn finden, als er sie – diese Haltung ist Sokolov beim Spielen völlig fremd.
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Grigory Sokolov - Schubert, Impromptus Op. 90, No. 3
Es entbehrt nicht der Ironie, dass gerade Sokolov, der Studioaufnahmen ablehnt, der die Spontanität des Konzerts vorzieht, auf manchen Aufnahmen genau so klingt: als wären sie im Studio entstanden. So perfekt ist das, was er am Flügel macht. So kontrolliert jede Nuance. Spontaner, musikantischer spielen vielleicht andere. Aber niemand so vollkommen wie Grigory Sokolov.
Sendung: "Leporello" am 17. April 2025 ab 16:05 Uhr auf BR-KLASSIK
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