Der eine streamt im Lockdown, die andere macht auf die Nöte von Künstlern aufmerksam: Fünf Menschen waren für die Klassik in diesem Jahr besonders wichtig. Dabei sind unter anderem Igor Levit, Till Brönner und Anne-Sophie Mutter.
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Das Thema des Jahres 2020 ist natürlich die Corona-Pandemie. Verdopplungszeit, R-Wert und Inzidenzzahl bestimmten unseren Alltag. Auch in der Klassik hat sich viel getan – teils trotz, teils wegen Corona. Fünf Künstlerinnen und Künstler haben 2020 besonders geprägt. Das sind die Köpfe des Jahres von BR-KLASSIK.
von Sylvia Schreiber
Bildquelle: BR Kurz nach ihrer Rückkehr von einer Konzertreise stellt die Geigerin Anne-Sophie Mutter ein Video auf Facebook. Keine rührselige Homestory mit Geige, eher das berührende Bekenntnis einer 56-jährigen Frau. "Hallo Freunde und Fans, ihr wisst, dass ich im Geiste bei euch bin! Jetzt bin ich auch auf andere Art bei euch, nämlich mit Covid-19. Ich bin positiv getestet worden und bin in Quarantäne zuhause", sagt Mutter in dem Video. Sie fährt fort: "Ich denke, ich werde mich total davon erholen …" Die Satzmelodie schwingt zögerlich nach oben, man hört das Fragezeichen – in einer Zeit, als wir noch gar nichts wissen über das Virus, die Bilder aus Bergamo im Kopf haben.
Es geht gut aus. "Ich hatte großes Glück. Aber niemand sollte diese Erkrankung auf die leichte Schulter nehmen", sagt die Geigerin. Anne-Sophie Mutter hat einen unverkennbaren, direkten Geigenton und auch in ihrer Wortwahl schlägt sie stets einen unverblümten, schnurgeraden Ton an. Und so beschäftigt sie Corona nicht nur persönlich, seit Beginn der Pandemie nutzt sie ihre Popularität, um Politiker auf die verheerende Notlage von Musikerinnen und Musikern hinzuweisen.
Immer wieder mahnt sie feurig, mit Briefen, bei Preisverleihungen, in Interviews. "Weil die Hilfsangebote für Musiker spärlich und spät kommen, weil wir ein Berufsverbot, eigentlich fast durchgängig, seit März haben, und viele bereits am Rande des finanziellen Ruins sind", sagt sie. "Ich verstehe nicht, wieso das Grundrecht auf Religion dem Grundrecht auf Musik übergeordnet ist", sagt sie zum "Lockdown Light" im November 2020. Mutter kritisiert die geringen Soforthilfen und erinnert an alle, die wegen der Corona-Maßnahmen arbeitslos sind.
Das macht sie sogar, als sie im Herbst den Opus Klassik 2020 als Instrumentalistin des Jahres bekommt, für ihr Album mit Musik des Filmkomponisten John Williams. Mutter ist leidenschaftlicher Star-Wars-Fan. Seit über vierzig Jahren verfolgt die Geigerin das Schicksal von Luke Skywalker, von Yoda, Leyla und R2-D2. Sich neue Welten, neue Galaxien zu erschließen ist für Anne Sophie Mutter in jeder Hinsicht das Größte.
Das ist doch der Sinn der Kunst, aus dem Alltag sozusagen herausgerissen zu werden und Dinge völlig neu zu sehen. Zu staunen, schockiert zu sein auch!
von Kathrin Hasselbeck
Bildquelle: picture alliance / Robert Newald / picturedesk.com Ostern, Pfingsten, Sommer. Drei Festivals, zwei kleinere, ein riesiges. Zwei Absagen, ein "Wunder" – so zumindest bezeichnet Markus Hinterhäuser, der Intendant der Salzburger Festspiele, die Tatsache, dass sein Festival im August 2020 stattgefunden hat – als einziges großes Musikfestival in diesem Jahr.
Ende März der erste Einschlag: Die Osterfestspiele müssen ausfallen. Hinterhäuser ahnt deprimiert, dass auch die Pfingstfestspiele ein Opfer der Pandemie-Maßnahmen werden. "Im Moment ist Geduld gefragt", erzählt er da BR-KLASSIK. Für den Sommer, seinen großen Jubiläumssommer, wagt er noch zu hoffen. Schließlich wollen sie doch Hundertjähriges feiern an der Salzach! Und zwei Monate später, Ende Mai, ist klar: Reihum werden weltweit Musikfestivals abgesagt, Pfingsten wird es in Salzburg keine Konzerte geben, aber: Markus Hinterhäuser rettet die Salzburger Festspiele 2020, weil er die Entscheidung so lange wie möglich hinauszögert: "Das war eine Mischung aus Hoffnung, aus Traum, und manchmal auch Realitätsverweigerung."
Sie werden kürzer, kleiner, mit weniger Publikum, mit Masken und Abstand und einer Test-Strategie für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Aber: Die Salzburger Festspiele werden auch ein voller Erfolg. Musikalisch und in Sachen Gesundheitsschutz – es gibt nur einen Corona-Fall bei den Proben, ohne weitere Konsequenzen. Am Ende stehen Dankbarkeit und Stolz.
Ich weiß, dass es richtig war, dass es das nachdrücklichste, wesentlichste und vitalste Signal an die Kulturwelt auch über Europa hinaus war, dass Kunst, Musik, Theater, dass die Zusammenkunft von Menschen möglich ist.
von Antonia Morin
Bildquelle: © Lutz Edelhoff Für Joana Mallwitz geht im Sommer 2020 ein Traum in Erfüllung. Zum ersten Mal in ihrem Leben dirigiert die 34-Jährige die Wiener Philharmoniker. Zum ersten Mal leitet sie eine Opernpremiere bei den Salzburger Festspielen, Mozarts "Così fan tutte". Und: Zum ersten Mal leitet damit eine Frau eine Premiere bei den Salzburger Festspielen. Joana Mallwitz schreibt Geschichte. "Ich bin immer wieder überrascht, wo man überall noch die erste Frau sein kann", sagt sie.
Unter welchen Bedingungen Joana Mallwitz ihr Debüt bei den Salzburger Festspielen geben würde, hätte sie vorher nicht ahnen können. Mit Abstandsregeln, strenger Klausur, Kontakttagebüchern und regelmäßigen Covid-19-Tests. Die Corona-Pandemie stellt Mallwitz auch als Generalmusikdirektorin am Staatstheater Nürnberg vor besondere Herausforderungen. Aber den Kopf in den Sand zu stecken, ist nicht ihre Art, auch nicht im Krisenjahr 2020 – sie erfindet zusammen mit BR-KLASSIK ein digitales Expeditionskonzert. Man sieht die Dirigentin am Flügel sitzen, auf der Bühne des Nürnberger Staatstheaters. Auf lockere, unterhaltsame Art erklärt sie Beethovens Siebte Symphonie.
"Man versucht, auf diese bescheuerten – Verzeihung – Bedingungen, die man gerade hat, künstlerische Antworten zu finden", sagt Mallwitz. Sie findet die künstlerischen Antworten, immer wieder. Am 12. November wird Joana Mallwitz für ihre Leistungen als Dirigentin und Musikvermittlerin mit dem Sonderpreis des Kulturpreises Bayern ausgezeichnet.
Joana Mallwitz ist eine inspirierte und inspirierende Musikerin und an eine begnadete Musikvermittlerin. Es freut mich besonders, dass heute am Dirigierpult Menschen wie sie stehen.
von Ulrich Habersetzer
Bildquelle: © Sony Masterworks Entspannte Trompete, angespannter Trompeter: Till Brönner ist wütend. Für Deutschlands Vorzeige-Trompeter hätte 2020 ein konzertreiches Jahr werden sollen, er hätte sein Urlaubsalbum "On Vacation" ausgiebig präsentiert. Aber: "Ich bin stinksauer darüber, dass ich seit Februar – sowie eine wahnsinnig große Branche – mit ansehen muss, wie sich die Regierung Deutschlands, die Regierung einer Kulturnation, offenbar überhaupt keine Gedanken über die Lebens- und Berufswirklichkeit von Künstlern macht", sagt er in einer Video-Botschaft, die er im Oktober, kurz vor dem zweiten Lockdown, veröffentlicht. "Da müssen wir jetzt aufstehen, und mich hat es gewundert, dass das nicht vorher schon jemand prominent getan hat."
Doch, auch andere haben gesprochen, aber vielleicht nicht so konkret, so deutlich und mit so viel Durchsetzungswillen wie Brönner, sonst geschmeidig-jazziger Entertainer. Er spricht eindrucksvoll, nicht für sich selbst, er wird zum prominenten und akzeptierten Für- und Vorsprecher für den großen Bereich der Kulturschaffenden. "Das ist eine Gruppe von Menschen, die sehr viel Geld in die Kassen des Staates gespült hat. Und jetzt lässt der Staat sie hängen. Das kann ich nicht mit ansehen."
Und siehe da, die Politik hört zu – oder zumindest mal hin. Brönner wird zum Talk geladen, diskutiert unter anderem mit Bayerns Ministerpräsidenten Markus Söder über Kultur und Spaßbäder – nicht unbedingt zu Brönners Zufriedenheit: "Das kann doch nicht wahr sein, dass ein Bereich wie die Kulturszene nicht der Bildung zugeschrieben wird, sondern Freizeitwirtschaft. Mir fehlt dafür wirklich jedes Verständnis."
Till, der sonst so Smarte, ist plötzlich Brönner, der ziemlich Harte. Einer, der sonst schmeichelt mit seinen Tönen, hat 2020 richtig Kante gezeigt. Ob er wirklich etwas anstoßen konnte, wird man sehen, über den Berg ist die Kulturszene noch lange nicht. Vielleicht muss Till Brönner nochmal laut werden, denn er wird gehört. Und die Wut, die steht ihm gut.
Das darf in einer Kulturnation, die soviel Verantwortung trägt, auch für den Ruf in der Welt, nicht passieren.
von Tobias Stosiek
Bildquelle: Robbie Lawrence Igor Levit genoss und durchlitt dieses Jahr eine mediale Dauerpräsenz. Klar erhöht es die Chancen, Levit zu kennen, wenn man sich für klassische Musik interessiert. Aber die Chancen sind derzeit auch dann ziemlich gut, wenn einem die Klassik ziemlich wurscht ist. Denn Levit ist mehr: Levit ist Pop.
"Citizen. Pianist. Activist. Mensch.", schreibt der von der WELT zum "Twitterpianisten" gekrönte Levit ebendort unter sein Profilfoto. Ein etwas dämliches Label, das Levit in seinen Tweets natürlich sofort selbstironisch aufgriff. "Der Twitterpianist verkündet: Ab sofort endet jedes Stück nach 280 Tönen." Womit er bewies, dass dieser Titel auch seine Berechtigung hat. Levit versteht das Twittergame. Bespielt die maximal 280 Zeichen ähnlich virtuos wie die 88 Tasten. Und mit einer ähnlichen Ausdrucksleidenschaft.
Ironie, Pathos (viel davon), Witz, Kitsch, Emphase – alles dabei. Auch Trauer und Wut. Vor allem dann, wenn es gegen Nazis geht. Wenngleich: "Wirklich, fürs Protokoll, Neofaschisten sind nicht mein einziges Thema in den sozialen Medien", sagt Levit. Ja, richtig, um Musik geht's auch. Und oft. Man denke nur an Levits über fünfzig gestreamte Hauskonzerte im Frühsommer dieses Jahres. "Ihr Lieben, willkommen zurück! Ich mach’s kurz: Heute gibt es wieder Beethoven …" – 52 wilde Programme zwischen Beethoven und Rzewski, mit verwackeltem Bild und schlechtem Ton. Hunderttausende schauen und hören trotzdem zu.
Bis nach Schloss Bellevue führt Levit dieser Streamingmarathon. Zweimal sogar. "Igor Levit ist ein großer Künstler, der uns sagt, wie wichtig Kunst ist, und der auch zeigt, dass Musik trösten kann", sagt Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Und weil der außerdem noch Levits politische Wortmeldungen schätzt, sein Engagement gegen Antisemitismus und die Ausgrenzung von Minderheiten, lädt er ihn im Oktober gleich nochmal ein. Diesmal, um ihm eine schicke Brosche an die Brust zu stecken. Einen Adler im roten Kreuz. Das Bundesverdienstkreuz.
Was wiederum die Hater auf den Plan ruft, in den sozialen Medien, aber auch im klassischen Feuilleton. Das beweist ein Autor der Süddeutschen, der bei einigen Journalisten-Kollegen offenbar eine Art hagiographisches Abkulten des Aktivisten und Pianisten Igor Levit wittert. Kritik daran wäre legitim, wird allerdings in der Form zum Problem, in der sie die Zeitung abdruckt. In diesem Text mokiert sich der Autor nicht nur über Levits Legatospiel. Neben ihrer unglücklichen Vermischung von ästhetischen und politischen Kategorien bedient die Polemik auch noch antisemitische Klischees. Das Feuilleton hat seine Herbstdebatte und ist mehrheitlich empört. Twitter auch. Die Süddeutsche entschuldigt sich – ein ziemlich einmaliger Vorgang, jedenfalls bei einer klassischen Musikkritik. Und Levit, der mitten in Aufnahmen steckt, ist verletzt. Und witzelt trotzdem.
Will man der Debatte auch irgendetwas Positives abgewinnen, dann vielleicht das: Immerhin zeigt sie, wie wichtig und hoffentlich entrümpelnd Igor Levit für den Klassikbetrieb ist. Offenbar fordert er nämlich immer noch ein Klischee – auch auf Kritikerseite – heraus, nämlich jenes, wonach klassische Musiker idealerweise Autisten am Instrument sein sollten. Klappe halten und spielen.
Apropos, da war doch noch was: Beethoven. Der Einzige, der in diesem Jahr ähnlich unvermeidlich war wie Igor Levit. Sämtliche seiner Sonaten hat Levit aufgenommen, in ebenso vielen Podcastepisoden erläutert, und natürlich auch live gespielt. Überall dort, wo es in diesem seltsamen Jahr eben möglich war: Twitter, Salzburg und Luzern zum Beispiel. Dort konnte man einem Mann zusehen, der sich mit einer unbedingten Intensität der Musik widmet. Dem gefühlt 10.000 Interviews im Jahr, und, nach eigener Auskunft, durchschnittlich vier Stunden Schlaf in der Nacht, keinen Funken an Konzentration von dem abziehen, was er am Flügel macht: verdammt aufregend klavierspielen.
Sendung: "Allegro" am 7., 8., 9., 10. und 11. Dezember 2020 ab 06:05 Uhr auf BR-KLASSIK
Kommentare (3)
Dienstag, 08.Dezember, 12:38 Uhr
Joachim Fischer
Astor Piazolla
Einzelmeinung: Astor Piazolla hat den Tango kaputtgemacht!
Montag, 07.Dezember, 21:25 Uhr
Dagmar Beyse
Klassikköpfe
Herausragende treffsichere
Zusammenfassungen!
Besonders die Bandbreite der Charakterisierung des multidimensionalen Wirkens von Igor Levit ?? danke??
Montag, 07.Dezember, 12:59 Uhr
Julia
Klassik besteht nicht nur aus bekannten Gesichtern
Die Medien greifen nur die großen Künstler auf, und dann feiern diese dafür, dass sie von den Medien aufgegriffen wurden.
Es gibt unzählige Musiker in der Klassik, die sich für die Klassik und für die Menschen nebenan eingesetzt haben. Ohne Medienecho und dafür umso menschlicher. Sie brauchen nicht Sprachrohr durch bekannte "Mitbewerber". Oder besser gesagt: sie würden gerne für sich sprechen, wenn die Medien auch diese Stimmen aufgreifen würden.