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Kritik – Händels "Alcina" in Nürnberg Amüsiert euch doch endlich!

Wegen ihrer psychologischen Tiefe hat diese Barock-Oper gerade Konjunktur: Nicht mal auf einer paradiesischen Zauberinsel gelingt es kriegsversehrten Veteranen in der Inszenierung von Jens-Daniel Herzog, zu sich selbst (und zur Liebe) zurückzufinden, ihre traumatischen Erlebnisse sind stärker. Eine beklemmende Aktualität, auch musikalisch überzeugt die Premiere in jeder Hinsicht.

Szene aus "Alcina" am Staatstheater Nürnberg (Premiere 16.03.2025) | Bildquelle: Ludwig Olah

Bildquelle: Ludwig Olah

Das Paradies als solches ist ja eigentlich eine ganz verlockende Verheißung, allerdings übersehen die meisten dabei eine Kleinigkeit: Wer rein will, nimmt sich zwangsläufig selbst mit und damit auch alle seine Probleme, Erinnerungen, Sorgen, Nöte und Ängste. "Amüsiert euch doch endlich", ruft Alcina, die Zauberkönigin im opulent ausgestatteten Luxustempel, ständig ihren Gästen zu. Doch die kommen in der Inszenierung von Jens-Daniel Herzog am Staatstheater Nürnberg geradewegs aus den Schützengräben des Ersten Weltkriegs und werden ihre traumatischen Erlebnisse nicht los, da können die dienstbaren Geister noch so schicke Fräcke tragen, die Sofas und Sessel noch so weich gepolstert sein, der Sekt noch so fein perlen: Die Gasmasken, die Artillerie, das Grauen an der Front bleiben präsent. Klar, dass die Liebe hier keine Chance hat, nicht mal in diesem Paradies.

Staatstheater Nürnberg: Alcina als Stummfilm-Diva

Szene aus "Alcina" am Staatstheater Nürnberg (Premiere 16.03.2025) | Bildquelle: Ludwig Olah Händels "Alcina" in Nürnberg. Inszenierung im Art-déco-Stil der 1920er-Jahre. | Bildquelle: Ludwig Olah Und wen ärgert das am meisten? Natürlich die Herrscherin über diese laszive Üppigkeit im Art-déco-Stil der 1920er-Jahre des letzten Jahrhunderts, die Titelheldin Alcina. Sie erinnert vom Outfit her an eine Stummfilm-Diva und schafft es trotz all ihres Charmes, trotz elegantem Auftreten und großzügiger Bewirtung nicht, aus den kriegsversehrten Veteranen unbekümmerte Feierbiester zu machen. Eine Regie-Deutung, die schon bei der Premiere dieser Produktion an der Oper in Bonn am 10. November vergangenen Jahres sehr gelobt wurde, auch wegen des Bühnenbilds von Mathis Neithardt und der Kostüme von Sibylle Gädeke. Jetzt, bei der Nürnberger Aufführung mit durchweg neuer Besetzung, zeigte sich die Qualität von Jens-Daniel Herzogs Interpretation einmal mehr, und dass will was heißen, denn Händels "Alcina" aus dem Jahr 1735 ist nicht gerade leicht in den Griff zu bekommen. Das Werk ist zu lang, es ist musikalisch zu eintönig und lässt dramatische Spannung vermissen.

Händel-Oper "Alcina" mit psychologischem Tiefgang

Verblüffend, dass es derzeit trotzdem landauf, landab auf die Spielpläne gesetzt wird: Ende Januar am Münchner Gärtnerplatztheater, jetzt in Nürnberg, nächstes Jahr an der Bayerischen Staatsoper. Grund dafür ist wohl die psychologische Tiefe der Oper: Alle Mitwirkenden schauen ständig nach innen, suchen mehr oder weniger verzweifelt nach ihrer Identität – und finden sie nicht. Eigentlich schockierend, dass dabei nicht mal paradiesische Umstände, nicht mal eine Zauberinsel helfen kann.

Überzeugt am Pult der Staatsphilharmonie Nürnberg: Dorothee Oberlinger

Dank Dirigentin Dorothee Oberlinger, einer gelernten Flötistin und ausgewiesenen Expertin für Alte Musik, war diese "Alcina" nicht nur szenisch, sondern auch musikalisch so überzeugend wie unterhaltsam. Die vielen melancholischen Arien vertragen ein forsches Tempo und vor allem hochtemperierte Emotionalität, sonst langweilen sie, und das wurde in Nürnberg über gut drei Stunden durchweg vermieden. Eine bemerkenswerte Leistung der Staatsphilharmonie, denn diese Energie muss erst mal freigesetzt und immer wieder neu mobilisiert werden: Mitunter sogar gegen Händels sperrige Partitur.

Die Comedian Harmonists lassen grüßen

Szene aus "Alcina" am Staatstheater Nürnberg (Premiere 16.03.2025) | Bildquelle: Ludwig Olah Eine zeitgemäße, plausible und überraschend kurzweilige "Alcina", inszeniert von Jens-Daniel Herzog. | Bildquelle: Ludwig Olah Beachtlich auch die Solisten, darunter Julia Grüter in der Titelrolle: Eine zunächst souveräne, lässige Führungskraft, die schließlich unter dem Druck der Frustrationen implodiert. Stark, dieses Rollenporträt, stimmlich wie schauspielerisch. Ähnliches gilt für Chloë Morgan als Alcinas lebenslustige Schwester Morgana. Die Mezzosopranistinnen Corinna Scheurle und Sara Šetar machten als Liebespaar Ruggiero und Bradamante deutlich, warum Wohlstand allein nicht reicht, um zu emotionaler Stabilität zu finden: Dazu gehört Unbeschwertheit, wie sie in Kriegszeiten schier undenkbar ist. Insgesamt eine zeitgemäße, plausible und überraschend kurzweilige "Alcina". Dass Jens-Daniel Herzog fast alle Arien mit Slapstick angereichert hat, der hier und da Assoziationen an die berühmten Comedian Harmonists aufkommen ließ, ist Geschmackssache: Die einen fühlen sich dadurch zu sehr abgelenkt vom artistischen Barock-Gesang, die anderen schätzen solche szenische Auflockerung – vielleicht sogar die meisten!

Sendung: "Allegro" am 17. März 2025 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK

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