Sie sind ein Mysterium: Die drei letzten Symphonien von W. A. Mozart. In kürzester Zeit komponiert, mit himmelhochjauchzenden Gefühlen und tiefsten Abgründen. Extrem verschieden und doch innerlich verbunden. Simon Rattle fasst die drei Werke nun an einem Abend im Konzert mit dem BRSO zusammen. Übertragen wird das heutige Konzert live im Radio, das morgige können Sie per Videostream live miterleben.
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BR-KLASSIK: Sir Simon Rattle, Sie dirigieren heute ein reines Mozartprogramm. Wann hat denn die "Love Affair" Mozart-Rattle begonnen?
Simon Rattle: Mozart war schon immer Teil meines Lebens, auch als junger Pianist. Allerdings war ich erstmal ein Haydn-Liebhaber. Das war meine wahre Leidenschaft. Aber in Mozarts Musik sind einfach die meisten Vitamine drin. Diese letzten drei Symphonien sind ein großes Rätsel. Warum hat er sie geschrieben? Wie ist es möglich, dass jemand in sechs Wochen drei Symphonien schreiben kann, die so klingen, als kämen sie von drei unterschiedlichen Komponisten? Wenn wir im Konzert nach der Es-Dur-Symphonie die g-Moll Symphonie anstimmen, ist das wie ein Schock – immens! Die in g-Moll ist im Vergleich zur Es-Dur-Symphonie nicht nur ein anderer Planet, wir befinden uns plötzlich in einem anderen Sonnensystem! Und danach kommen dann dieser außergewöhnliche Witz, die Erhabenheit und Gelassenheit der C-Dur-Symphonie. Das BRSO hat in den letzten Jahren nicht viel Mozart gespielt. Das war eher eine Seltenheit. Verständlich, denn viele Dirigenten haben Angst vor Mozart. Bei Mozart weißt Du nie, was Du bekommst, womit Du zu kämpfen haben wirst.
Mozart war schon immer Teil meines Lebens, doch Haydn war meine wahre Leidenschaft.
BR-KLASSIK überträgt die Konzerte mit Sir Simon Rattle und dem BRSO live aus dem Herkulessaal der Münchner Residenz: am 6. Februar ab 20:03 Uhr im Hörfunk und am 7. Februar ab 20:00 Uhr im Videostream.
BR-KLASSIK: In der Probe konnte man beobachten, dass Sie nicht so sehr drauf setzen, diesen ganz leichten Mozart zu präsentieren, sondern den Feuerkopf Mozart und auch den Mozart, der mit vielen Zwängen auskommen musste, der in sehr schweren Zeiten lebte. Ist es Ihr Anliegen, den Dramatiker Mozart zu zeigen?
Simon Rattle: Es ist nicht nur das, denn wenn man die Leichtigkeit verliert, ist man selbst verloren.
Aber ja, ich kann mich an eine Zeit erinnern, in der Mozart so gespielt wurde, als sei er ein Stück China-Porzellan, das in tausend Stücke bricht, sobald man es in die Hand nimmt. Aber Nikolaus Harnoncourt und die Alte-Musik-Bewegung haben uns geholfen zu erkennen, dass es eben nicht nur darum geht. Diese drei Symphonien sind außergewöhnlich dramatische Stücke, aber dramatisch auf eine ganz unterschiedliche Weise. Die Es-Dur-Symphonie zum Beispiel ist voller Haydn. Die g-Moll-Symphonie dagegen führt uns an ganz ungewöhnliche Orte. Besonders wenn Mozart im Finale fast eine Zwölftonreihe verwendet und man das Gefühl hat, als würde er all das niederreißen, was er eben aufgebaut hatte. Mozart kann einfach nicht höflich sein. Ich denke, er war sehr vielschichtig, aber höflich sicher nicht.
BR-KLASSIK: Diese drei Symphonien werden immer wieder als innere Einheit bezeichnet. Nikolaus Harnoncourt bezeichnete sie als "Instrumentales Oratorium". Können Sie damit etwas anfangen?
Wolfgang Amadeus Mozart | Bildquelle: picture-alliance/dpa Simon Rattle: Ich wünschte, ich könnte mit Nikolaus zusammensitzen und mit ihm sprechen. Das würde uns doch allen gefallen, oder? Ich bewundere ihn sehr. Er hat mein Mozartverständnis komplett verändert. Seine Art, Musik als Klangrede, als Rhetorik zu verstehen. Was ich an ihm liebe: Wann immer ich ihn getroffen habe, er hat immer irgendetwas komplett Neues entdeckt, vor allem in den Stücken, die er immer wieder gespielt hat. Ich hoffe, wir bleiben alle so. Diese Idee mit dem "Instrumentaloratorium" war seine letzte Idee zu diesen drei Symphonien. Wenn er so lang gelebt hätte wie Herbert Blomstedt, dann hätte er bestimmt weitere fünf Wege gefunden, diese Symphonien zu interpretieren. Und alle wären so überzeugend, dass sie als einzige Wahrheit empfunden würden – auch wenn sie komplett das Gegenteil von dem ausdrücken, was er vorher mit dem "Instrumentaloratorium" meinte. Ich verstehe, was er mit dem Begriff meint, aber ich persönlich kann das nicht umsetzen. Doch was immer uns hilft, ein Fenster in diese Welt zu öffnen, ist wichtig.
BR-KLASSIK: Einige Musikwissenschaftler schreiben, dass die Zahl drei in diesen drei Symphonien eine wichtige Rolle spielt.
Simon Rattle: Ja, das stimmt. Aber die Wahrheit ist, dass man fast jede Theorie auf diese Musik anwenden kann und sie wird genau das spiegeln. Sie ist so reich, so unbegreiflich. Genau das bewirkt die Freude an dieser Musik, dass du die Partitur aufschlägst und dich fragst, wie habe ich diese Stücke fünfzig Jahre lang gespielt, ohne das zu bemerken?
BR-KLASSIK: Das ist schön, wenn Musik einen immer überraschen kann. Sie haben jetzt auch eine Überraschung aus dem Ärmel gezogen. Sie haben aus dem BRSO heraus noch ein zweites Ensemble gegründet, nämlich BRSO hip, ein Projekt, wo Sie mit 30 bis 40 Musikerinnen und Musikern aus dem Orchester ein Ensemble formieren, das historisch informiert musiziert, vor allem Barockmusik. Was ist Ihr Anliegen, Simon Rattle, mit diesem neuen Ensemble, wo Sie auch gleich richtig Geld hineingepumpt haben, den Ernst von Siemens Musikpreis, den Sie gerade erhalten haben?
Simon Rattle: Die Bewegung der historischen Aufführungspraxis hat uns alle beeinflusst. Dieser Ansatz macht einen riesigen Unterschied. Es ist wunderbar, so ein fantastisches Symphonieorchester wie dieses zu haben, das mit den Instrumenten der damaligen Zeit arbeitet. Wir sind zwar noch nicht so weit, Mozart auf diese Weise zu spielen und werden es wahrscheinlich noch viele Jahre nicht sein – aber wir sind jetzt bereit für die Barockmusik. Es gibt im Orchester einige Musikerinnen und Musiker, die schon extrem versiert sind auf diesen historischen Instrumenten. Die meisten Leute hier im BRSO haben schon praktische Erfahrung mit der historischen Aufführungspraxis, die ja in den letzten 30 oder 40 Jahren fast schon zum Mainstream geworden ist. Ich möchte zurückgehen und gemeinsam erarbeiten: Was genau geschieht durch den Wechsel auf Darmsaiten? Durch den Umstieg auf Barockbögen? Es geht um Rhetorik. Die historischen Instrumente und Spielweisen führen Dich zu ganz anderen Einsichten. Zum Beispiel die Musik von Bach. Bach-Kantaten sind eine Goldgrube, jenseits des Glaubens.
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BR-KLASSIK: Sie spielen am 9. Februar, in drei Tagen, im Prinzregententheater in München, Bach-Kantaten.
Simon Rattle: Ja, und in der Tat wird es das erste Mal sein, dass wir mit diesem Ensemble überhaupt vor einem richtigen Publikum spielen. Diese Kantaten sind drei der größten Meisterwerke von Bach. Keine ist besonders bekannt, außer bei Bach-Spezialisten. Deshalb war die Auseinandersetzung mit ihnen eine richtige Entdeckungsreise. Wir haben sie letzte Saison erstmal privat gespielt. Das war wie die erste Probe der Saison. Es tat überall weh. Aber ich muss sagen, die Erfahrung war so kraftvoll – für uns alle. Du fühlst dich, als würdest du innerlich und äußerlich von dieser großartigen Musik gereinigt.
BR-KLASSIK: Wenn man viele Jahre oder Jahrzehnte auf seine eigene Art und Weise musiziert, ist es ja gar nicht so einfach, mal eben umzusteigen auf historisch informierte Spielweise. Waren die BRSO-Musikerinnen und Musiker gleich offen dafür?
Johann Sebastian Bach | Bildquelle: BR/BR Simon Rattle: Sie sind sehr mutig und unglaublich offen. Es gab eine Reihe von Meisterkursen, weil die Musikerinnen und Musiker hier so wissbegierig waren. Thomas Kiechle, einer unserer Trompeter, spielt dieses außergewöhnliche Instrument, das aus der Zeit von Bach stammt, und das in zwei dieser Kantaten verwendet wird, das Corno da Terrasi. Wir wissen, dass dieses Instrument existiert hat, wie es aussah, aber es gibt kein Exemplar davon – nirgendwo auf der Welt. Unser Trompeter musste es sich also anfertigen lassen und dann lernen, wie man darauf spielt. Es ist wirklich was ganz Besonderes, klanglich irgendwo zwischen einem Horn, einer Posaune und einer Trompete. Bach wollte offensichtlich etwas ganz Bestimmtes ausdrücken mit diesem Corno da Terrasi. Besonders in der Kantate Nummer 105, die zu Beginn echten Schrecken ausdrückt: Da heißt es: "Herr, verurteile uns nicht, bitte". Es ist ein Flehen um Gnade.
BR-KLASSIK: Beim Corno da Terrasi handelt es sich um einen Nachbau, weil ja keines der Instrumente überliefert ist. Wird es im Hip-Projekt auch historische Instrumente geben?
Simon Rattle: Wir hatten unglaubliches Glück, eine Quelle zu finden, bei der wir viele gute Barockbögen kaufen konnten. Die meisten Leute haben ein zweites Instrument, das sie für solche Projekte verwenden können. Niemand wird Tag für Tag Darmsaiten gegen Metallsaiten austauschen. Und diejenigen, die noch nichts Geeignetes haben, suchen jetzt nach Instrumenten, mit denen sie in dieser neuen musikalischen Welt dauerhaft leben können. Für uns alle ist das ein riesiges Abenteuer, und es wird garantiert nicht nur unsere Art Barockmusik zu spielen, verändern. Das betrifft jede Form von Musik. Es ist ein Segen, dass das BRSO so neugierig, offen und mutig ist. Interessant finde ich auch, dass München so eine musikalische Stadt ist mit einer außergewöhnlichen Bach-Tradition, beginnend mit Karl Richter. Aber es gibt bisher kein bekanntes eigenes Ensemble für historische Instrumente. Also füllt unser hip-Projekt in gewisser Weise eine Lücke. Ich verstehe das Projekt als eine Reise durch die gesamte Musikwelt. Der Komponist György Kurtag sagte: Die Leute betonen immer, wie Bach Bruckner beeinflusst hat, aber sie vergessen immer zu sagen, wie sehr Bruckner Bach beeinflusste. Die Idee ist, dass Musik zirkulär ist. Alles hängt mit allem zusammen.
BR-KLASSIK: Sir Simon Rattle, haben Sie selbst auch früher schon alte Musik gespielt? Ihr Hauptinstrument war ja Schlagzeug.
Simon Rattle: Ich habe einen Großteil meiner Teenagerjahre damit verbracht, Barockmusik zu spielen. Wir hatten eine kleine Gruppe wunderbarer Amateurmusiker in Liverpool. Einen Drucker als Oboisten, einen Geschichtslehrer als Fagottisten. Der Barockgeiger war Lastwagenfahrer, aber ein sehr poetischer Lastwagenfahrer. Und ich spielte das Cembalo. Wir haben mindestens alle zwei Wochen während meiner Teenagerjahre gespielt, manchmal öfter. Eine tolle Sache.
BR-KLASSIK: Gab es auch eine Band, wo sie Beatles-Songs gecovert haben? Sie kommen ja schließlich aus Liverpool.
Simon Rattle: Ja, das war präsent. Tatsächlich habe ich in der Nähe von Penny Lane gewohnt, und ich wette, auch die Beatles haben Barockmusik gehört. Ich habe allerdings erst verstanden, wie großartig die Beatles waren, als ich Liverpool verlassen habe, was eigentlich absurd ist. Ich bin ziemlich früh gegangen, mit 16. Ich hätte versuchen können, sie live zu hören, aber ich war so in andere Musikrichtungen vertieft. In habe erst später erkannt, was ich verpasst habe. Denn nach jedem Standard waren sie außergewöhnliche Musiker.
BR-KLASSIK: Zurück zu Mozart. Sie verzichten in diesem Programm darauf, ein Dirigentenpult zu verwenden. Sie stehen also auf derselben Ebene mit den Muszierenden. Warum machen Sie das so?
Simon Rattle: Ich möchte nah bei den Musikern sein. Dann können wir uns direkt in die Augen schauen. So vermeide ich es, von oben herab Autorität auszuüben. Mozart ist improvisatorische, große Kammermusik – das ist die Idee dahinter. Ich kann mich besser bewegen und näherkommen. Wenn ich zum Beispiel die Bratschen besser hören möchte, kann ich einfach rüber in die Bratschensektion gehen.
Sendung: "Leporello" am 6. Februar 2025 um 16:05 auf BR-KLASSIK
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