London, 23. Februar 2014. Die Pianistin und Holocaust-Überlebende Alice Herz-Sommer stirbt – im Alter von 110 Jahren.
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Die Pianistin Alice Herz-Sommer stirbt
Als ihre Mutter im Sommer 1942 als erste der Familie Herz nach Theresienstadt deportiert wird, verfällt Alice in eine tiefe Depression. Seit einem Dreivierteljahr muss sie – wie alle Prager Juden – den gelben Davidstern tragen. Eine weitere Schikane – von denen hatte es seit der Besetzung Prags durch die Wehrmacht im Frühling 1939 unzählige gegeben. Der Verlust der Mutter ist wie ein Schlag. Alice ist gelähmt: "Ich hab nicht gegessen, ich habe nicht geschlafen, nicht einmal mein herrliches Kind konnte mich erfreuen. Da sagt mir eine innere Stimme: Jetzt kannst nur Du Dir helfen, nicht der Mann, nicht der Doktor, nicht das Kind. Und im selben Moment: die 24 Etüden von Chopin."
Die Etüden aus Chopins Opus 10 und Opus 25 gelten als der Gipfel der Klavierkunst. Die allermeisten Pianistinnen und Pianisten versuchen sich vielleicht an ein paar dieser extrem anspruchsvollen Werke, nur wenige können alle spielen, und noch weniger dürfen von sich behaupten, sie zu beherrschen. Alice übt, bis auch sie mit ihrer Familie nach Theresienstadt verschleppt wird. Weil die Nazis das Lager nach außen – unter anderem gegenüber dem Internationalen Roten Kreuz – als jüdische Mustersiedlung darstellten, gab es in Theresienstadt auch Kultur. Die restlichen Lebensumstände waren allerdings unmenschlich.
Die Musik gibt Alice Halt. Sie spricht vom Garten Eden inmitten der Hölle: "Das Publikum, das dort gesessen ist, das war ein Saal für 150 Leute, das waren alte, verzweifelte, kranke, verhungerte Menschen. Die haben gelebt von der Musik, die Musik war das Essen. Die wären längst schon gestorben, wenn sie nicht gekommen wären. Und wir auch."
Im Juni 1944 spielt sie ein Konzert in Theresienstadt – mit allen Etüden Chopins. Ein unglaublicher Kraftakt, ein großes Zeichen der Menschlichkeit in einer Umgebung, die – von Unmenschen geschaffen – die Menschen in ihr und ihre Menschlichkeit zerstören soll. Alices Mann Leopold stirbt kurz vor Kriegsende 1945 im Konzentrationslager Dachau, sie und ihr Sohn überleben Theresienstadt. Alice Herz-Sommer hält nach dem Krieg nichts in ihrer alten Heimat Prag, sie emigriert nach Israel, wird Klavierprofessorin und unterrichtet.
In den 80er Jahren zieht sie nach London in die Nähe ihres Sohns, der selbst Musiker geworden ist. Bis ins hohe Alter macht sie das, was sie immer gemacht hat: Alice spielt Klavier. Ein Dokumentarfilm über ihr Leben wird für den Oscar nominiert – kurz vor der Oscarverleihung stirbt Alice Herz-Sommer, mit 110 Jahren. Ihr Fazit: "Wissen Sie, so eigenartig es auch klingt – so eine schwere Zeit macht einen reicher."
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Das Geheimnis des Glücklichseins - Alice Herz-Sommer - 109 Jahre alt
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Sendung: "Allegro" am 23. Februar 2024 ab 06:05 Uhr auf BR-KLASSIK